Dein Ende wird dunkel sein (German Edition)
beruhigend.
Seit es geschehen ist, bin ich nicht mehr in der Nähe des Bärenpfostens gewesen. Um zur Wetterhütte zu gelangen, bin ich hintenherum gegangen: bin auf der Veranda rechts abgebogen und habe eine Kurve um die Rückseite der Hütte herum gemacht. So werde ich von nun an immer gehen.
Vor ein paar Minuten war ich am Fenster. Ich habe die dunklen Umrisse der Hunde gesehen, die friedlich vor der Hütte lagen und ihre Robbenknochen abnagten. Vom Gletscher weht ein schwacher Wind herunter und hüllt sie in Sprühnebel, doch das scheint ihnen nichts auszumachen. Ich habe sie nicht angebunden. Ich sehe keinen Grund dafür. Sie werden nicht davonlaufen. Außerdem können sie mich so besser vor Bären warnen.
Die Aussicht ist vollkommen normal. Auch im Inneren ist alles normal. Helle Lampen, ein knisternder Ofen. Ein Glas Whisky zur Hand, eine von Hugos Zigarren zwischen den Zähnen. Wenn ich mich im Rasierspiegel betrachte, sehe ich weder Schrecken noch Furcht. Keinerlei Verbindung zu dem Mann mit dem wilden Blick, der sich noch vor ein paar Stunden in den Nachttopf übergeben hat.
Ich muss mir stets in Erinnerung rufen, dass schon andere hier überwintert haben, und auch sie müssen Dinge erlebt haben – doch sie haben es geschafft. Genau wie ich. Ich werde mich nicht unterkriegen lassen.
Also habe ich mich zu ein paar grundsätzlichen Regeln verpflichtet.
Erstens: Ab sofort werde ich die Hunde weder einsperren noch anleinen. Ich werde sie frei laufen lassen. Die Türe zur Hundehütte werde ich mit einem Keil offen halten, damit sie kommen und gehen können, wie es ihnen gefällt, und sie trotzdem immer einen Schutzraum haben. Ich glaube nicht, dass ihnen etwas geschehen wird. Sie sind schließlich für die Arktis gezüchtet worden.
Zweitens: Ich werde einen Rationierungsplan erstellen. Nicht auszudenken, wenn Gus und Algie bei ihrer Rückkehr feststellen müssten, dass ich unsere Vorräte verprasst habe.
Drittens: Ich werde weniger trinken (o.k., damit fange ich morgen an).
Viertens: Maximal neun Stunden Schlaf pro Nacht. In dieser endlosen Dunkelheit fällt es einem leicht, zwölf Stunden und mehr zu schlafen – doch das darf nicht einreißen. Ich muss eine gewisse Struktur aufrechterhalten. Schlafenszeit, Essenszeit, Arbeitszeit. Struktur ist das Zauberwort.
Der Anblick dieser ordentlich aufgelisteten Regeln auf der Tagebuchseite ist außergewöhnlich tröstlich.
Außerdem ist es gut zu wissen, dass draußen acht wachsame Huskys ums Lager patrouillieren.
1. November
Ein guter Tag. Ich habe meine vorgeschriebenen neun Stunden geschlafen, ohne zu träumen, und bin von Gus’ Wecker erwacht.
Meine neuen Regeln bewähren sich. Wenn ich nicht mit den üblichen Verrichtungen zu tun habe, beschäftige ich mich mit neuen: Putzen, Wäschewaschen, die Hundehütte wetterfest machen, mit Teerpappe und Unmengen Stroh. Ich sehe nach dem Eis in der Bucht (bis jetzt ist sie gottlob eisfrei). Und wenn ich in der Hütte bin, lasse ich die ganze Zeit das Radio laufen. Ich plaudere in Morsezeichen mit Ohlsen auf der Bäreninsel. Und heute Nachmittag habe ich wieder mit Algie «gesprochen». Er hat mir erzählt, dass es Gus gutgeht, und ich habe ihm von meinen neuen Regeln berichtet (aber nicht, dass ich die Hunde frei laufen lasse). Er hat gleich zweimal gefragt, ob ich «wohlauf» sei, und ich sagte, es sei alles bestens. Ihn abzublocken verschaffte mir eine verderbte Art von Befriedigung. Wenn er weiter oberflächlich bleiben möchte, dann tue ich es auch. Er weiß, was für ein Ort dies ist. Er weiß, wovor er floh und ich nicht.
Doch was spielt das für eine Rolle? Meine Regeln funktionieren, und darum geht es.
Eigentlich wäre alles wieder ganz normal, bis auf die lächerliche Angewohnheit, ständig zum Nordfenster hinauszuschauen und nach dem Bärenpfosten zu sehen. Es ist lachhaft, ich weiß, aber ich muss mich vergewissern, dass der Pfosten nicht so nahe an der Hütte steht, wie ich meine.
Natürlich ist er jedes Mal, wenn ich zum Fenster hinaussehe, genau dort, wo er sein sollte: gut drei Schritte vom Fenster entfernt. Was jedoch irritierend ist: Sobald ich mich mit etwas anderem beschäftigt habe, kommen die Zweifel zurückgekrochen. Vor meinem inneren Auge steht der Pfosten näher an der Hütte, und zwar näher an der Türe, als wollte er sich Zutritt verschaffen. Obwohl ich weiß, wie absurd das ist, muss ich ans Fenster treten und mir Gewissheit verschaffen. Und das bedeutet, ganz egal, was ich
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