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Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied

Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied

Titel: Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marias
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wieder betritt; die Zeit verdichtet sich, das Gestern verschwindet – oder wird Zwischenzeit –, und es ist, als wäre man nie fortgewesen. Plötzlich weiß man wieder, welche Straßen man nehmen muß und in welcher Reihenfolge, um von einem Ort zum anderen zu gelangen, wohin auch immer, und auch, wie lange man dafür braucht. Zwanzig Minuten hatte ich für die Taxifahrt geschätzt, vom Palace bis zu mir nach Hause bei dem abscheulichen Verkehr, und fast genau so lange dauerte es. Doch anstatt mit Vorfreude an meine Kinder zu denken, die ich nach langer Abwesenheit nun endlich wiedersehen würde, kam ich während der ernüchterten Fahrt nicht umhin, über Luisa nachzugrübeln. Nicht, daß ich mir von ihr eine überschwengliche Begrüßung erwartet hätte, aber wenigstens die Neugier, die Sympathie, die sie mir entgegengebracht hatte, sooft ich von London aus mit ihr telefonierte, was hatte sich nur verändert, was hatte sie auf einmal gegen mich, da wir dieselbe Luft atmeten. Vielleicht brachte sie mir diese Sympathie und vage Neugier nur aus der Ferne entgegen, wenn sie mich weit weg wußte, wenn ich eine Stimme im Ohr war ohne Gesicht und Körper und Blick und Reichweite; dann konnte sie sich das erlauben, aber nicht hier, nicht an dem Ort, wo wir glücklich zusammengelebt und einander dann ein wenig weh getan hatten. Hier hatte sie verzichtet, hier hatte sie sich meiner entwöhnt, und nun wußte sie nicht recht, was sie mit mir anfangen sollte: Ich ging schon seit einiger Zeit nicht mehr um. Sie hatte sich über ihre Verabredung nichts entlocken lassen, das Ausgehen, das ihr eingefallen war, als sie erfuhr, daß ich leibhaftig in der Nähe war, halb war ich davon überzeugt. Sie mußte sich natürlich nichts entlocken lassen, ich hatte sie auch nicht gefragt und war nicht in sie gedrungen, ihr Treffen abzusagen, was einfach ist und nichts kostet, jeder tut es aus geringerem Grund oder aus einer bloßen Laune heraus (›Bitte, bitte, heute ist ein besonderer Tag, ich würde euch so gern alle zusammen sehen, bestimmt kannst du das verschieben, komm schon, versuchen kannst du es doch‹); aber das übliche ist, daß alle Welt sich rechtfertigt, auch wenn niemand darum gebeten hat, und sich ohne Not entschuldigt, und daß jeder seine belanglose Geschichte erzählt und sich ausbreitet und quatscht, aus reiner Lust am Gebrauch der Sprache, um überflüssige Informationen zu vermitteln oder Lücken zu vermeiden, um Eifersucht oder Neid zu erregen oder um nicht Mißtrauen zu wecken, indem man geheimnisvoll wirkt. ›Das verhängnisvolle Sprechen‹, hatte Wheeler gesagt. ›Der Fluch des Sprechens. Sprechen und sprechen ohne Unterlaß, dafür geht niemandem die Munition aus. Das ist das Rad, das die Welt bewegt, Jacobo, mehr als alles andere; das ist der Motor des Lebens, der sich nie abnutzt und nie stehenbleibt, das ist ihr wahrer Atem.‹ Luisa hatte ihn zurückgehalten, den Atem, sie hatte sich darauf beschränkt, zu mir zu sagen: ›Sie gehen heute nicht mehr aus, aber ich schon, in einer Weile‹, und sie hatte nicht einmal hinzugefügt, was in solchen Fällen das mindeste ist: ›Ich habe eine Verabredung, die ich nicht absagen kann, der Termin steht seit Wochen fest‹, oder ›Ich kann nicht mehr rechtzeitig Bescheid sagen‹, oder ›Ich kann das nicht verschieben, es sind Leute von auswärts da, morgen sind sie schon nicht mehr in Madrid‹. Sie hatte auch kein höfliches Bedauern über das Zusammentreffen ausgedrückt, auch wenn es geheuchelt gewesen wäre (aber denjenigen, der links liegengelassen wird, tröstet das ein wenig oder stellt ihn zufrieden): ›Wie ärgerlich, was für ein Pech, wie schade, ich hätte so gern miterlebt, wie die Kinder dich sehen. Hätte ich das doch vorher gewußt. Bis morgen wirst du nicht warten wollen, oder? Nach so langer Zeit.‹ Sie hatte kein Wort gesagt, so als wüßte sie nicht, welche Verabredung sie denn hatte, eher als ob sie sich das gerade erst ausgedacht hätte, und nicht so sehr, als ob sie etwas verbergen wollte. Das war mein Verdacht, vielleicht aufgrund einer déformation professionelle, meiner englischen Verformung. Jedenfalls hatte sie wohl einen Ort, wohin sie gehen, wo sie für ein paar Stunden Zuflucht finden konnte, die Stunden, die ich bei ihr zu Hause verbringen würde. Bestimmt hatte sie inzwischen schon einen Freund, einen Liebhaber, auch wenn er nur vorübergehend sein mochte. Sie brauchte ihn nur zu erreichen, oder vielleicht nicht einmal das, wenn

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