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Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied

Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied

Titel: Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marias
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er ihr schon Schlüssel gegeben hatte. ›Scheint, daß sie mich nicht sehen möchte‹, dachte ich im Taxi. ›Aber sehen wird sie mich, keine Frage. Ich bin nicht hergekommen, um mehr als einen Tag auszuhalten, ohne sie anzusehen, ohne ihr Gesicht wieder zu betrachten.‹
    Die Überraschung der Kinder war riesig. Marina musterte mich zunächst gründlich und mißtrauisch, dann gewöhnte sie sich an mich, so wie kleine Kinder das bei Unbekannten tun – es dauert Minuten, wenn der Erwachsene halbwegs mit ihnen umzugehen weiß –, weniger, als ob sie sich genau an mich erinnern könnte, das heißt, konkret. Hilfreich war auch, daß ihr Bruder sie sofort belehrte (›Das ist Papa, du Dummchen, merkst du das denn nicht?‹). Die Geschenke taten das ihre, um das Wiedersehen zu erleichtern, wie auch das beifällige, fast selige Lächeln der Babysitterin, einer aufgeweckten jungen Frau, die mir sofort aufgemacht hatte: Ich hatte nicht gewagt, meinen Schlüssel auszuprobieren, der ja womöglich nicht mehr passte, ich hatte geklingelt wie ein ganz normaler Besucher. Die Kleine stellte mir absurde Fragen (›Und wo wohnst du?‹, ›Hast du einen Hund?‹, ›Regnet es da immer?‹, ›Gibt es da Bären?‹), Guillermo übernahm diejenigen, in denen ein Vorwurf mitklang (›Warum sehen wir dich nie?‹, ›Bist du lieber dort als hier?‹, ›Kennst du auch englische Kinder?‹), dazu die abenteuerlustig-versponnenen, er sah ständig Filme und las auch schon recht viel (›Hast du dir die Schule von Harry Potter angeschaut?‹, ›Und das Haus von Sherlock Holmes?‹, ›Hast du keine Angst, nachts rauszugehen, bei dem Nebel und den Meuchelmördern, oder gibt es in London jetzt keine mehr?‹; ›Stimmt das, daß die Figuren im Wachskabinett genauso aussehen wie die in echt, wenn man sie nebeneinander stellt?‹). (Nein, sagte ich, ich hätte die besagte Schule nicht besucht, wohl aber die Baker Street 221 B, tatsächlich wohnte ich ganz in der Nähe und ging häufig dort vorbei; und in York hätte ich das wenig bekannte und vernachlässigte Grab von Dick Turpin entdeckt, dem Banditen mit dem roten Gehrock und der Maske und dem Dreispitz und den Stiefeln, die ihm bis an die Oberschenkel reichten, mit ihm begraben lag sein treues Pferd Black Bess, genau genommen eine Stute, und ich hätte den Ort gesehen, wo er gehängt worden war, in Tyburn, vor der Stadt, elegant gekleidet. Eines Nachts sei mir ein weißer Hund gefolgt, tis tis tis, über Straßen und Plätze und Parks bis zu mir nach Hause, er allein in dem dichten Regen, für die Kinder war es viel geheimnisvoller, wenn ich sein Frauchen ausließ; ich hätte ihn trocknen und bei mir übernachten lassen, und ja, ich hätte ihn gerne behalten, aber am nächsten Morgen sei er fortgelaufen, als ich ihn Gassi führte, und ich hätte ihn nie wieder gesehen, vielleicht hatte ihm mein Menschen-Essen nicht geschmeckt, Hundefutter hatte ich keines. In einer anderen Nacht hätte ich in einer Diskothek einen Mann ein Schwert ziehen sehen, eines mit doppelter Schneide, er habe es aus dem Mantel gezogen und die Leute bedroht, die erschrocken beiseitesprangen; dann habe er mit großem Geschick und Körperbeherrschung einige Gegenstände zerhackt, einen Tisch, zwei Stühle, er habe Vorhänge zerteilt, einige Flaschen zerdeppert, und zwei Frauen habe er den Rock aufgeschlitzt, ohne ihnen auch nur den kleinsten Kratzer zuzufügen, er hatte das sehr gut im Griff, ein richtiger Künstler; dann habe er das Schwert in die Scheide gesteckt, die sich in seinem langen Mantel befand, ihn übergestreift – was ihn nötigte, ganz aufrecht zu gehen, wie ein Phantom – und sei in aller Ruhe hinausspaziert, ohne daß irgend jemand gewagt hätte, ihn aufzuhalten; ich auch nicht, was glaubt denn ihr, seid ihr verrückt, er hätte mich im Handumdrehen in Scheiben geschnitten, er war sehr schnell mit der Waffe (er war wie ein Blitz ohne Donner, der stumm in Stücke spaltet). Fast hätte ich den beiden erzählt, daß ich eine dritte Nacht bei Wendy verbracht hätte, der Freundin von Peter Pan, aber ich ließ es bleiben: Das Mädchen war klein genug, um so etwas zu glauben, der Junge nicht, aber vor allem wollte ich nicht an die Videos denken, die mir dort vorgeführt worden waren, tatsächlich wollte ich mich nie wieder an sie erinnern und tat es doch ständig (›Im Sturmwind werden Wellen stark, die Schiffe ziehen sich zurück, die Ruder fliegen, Paar für Paar, gehißte Segel blähen sich. Hinein ins

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