Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied
vorerst nichts sagen oder erzählen, das haben wir schon gesehen. Wir könnten nicht einmal versuchen, sie zu überreden. Ich sehe nicht, daß irgend etwas in unserer Hand liegt. Und jetzt muß ich mich weiter um meine Sachen kümmern, Jaime, morgen verreise ich, und dieses Gespräch bringt nichts, außer daß wir einander in unserer Sorge bestärken.‹ Ich schwieg, dachte über ihre Worte nach: ›Wenn sie sich erst verwickelt haben, nehmen sie so gut wie alles in Kauf, wenigstens für eine gewisse Zeit.‹ ›Es geht nur darum, den anderen zu verwickeln, Einfluß zu nehmen, Bitten vorzubringen, Fragen zu stellen, etwas von ihm zu verlangen. Mit ihm zu reden und sich einzumischen‹, dachte und schwieg ich weiter. ›Jaime, bist du noch dran?‹
›Wir könnten versuchen, ihn zu überreden‹, sagte ich plötzlich.
›Ihn? Wir kennen ihn doch gar nicht, vor allem du nicht. Du hast vielleicht Ideen. Auf mich brauchst du nicht zu zählen. Außerdem fahre ich morgen weg. Und wenn du hingehen würdest, um mit ihm zu reden, würde er dir vermutlich ins Gesicht lachen oder dir eine aufs Maul hauen, begreifst du das denn nicht, wenn er wirklich ein gewalttätiger Mensch ist. Oder willst du ihm etwa Geld anbieten, damit er das Feld räumt, wie ein Vater alter Schule? Ach was, nach dem, was ich weiß, hat er das nicht nötig, er arbeitet für steinreiche Sammler. Und dann würde er alles Luisa erzählen, sag mir mal, wie du ihr eine derartige Einmischung in ihr Leben erklären könntest, ihr seid getrennt. Sie würde kein Wort mehr mit dir wechseln, das ist dir klar, oder? Also, auf deine Verantwortung.‹
Aber mein Überredungsversuch würde vielleicht nichts von alledem zur Folge haben. Ich überging also ihre Einwände und fragte sie nur, als hätte ich ihre letzten Worte nicht gehört:
›Sag mal, außer dem Pferdeschwanz: Wie ist er, wie sieht er aus?‹
I ch hatte von Reresby und Ure und Dundas gelernt, und ich hatte mich sogar ein wenig bei Tupra angesteckt, aber ich war noch nicht wie er und wollte das auch nicht, außer bei einzelnen Anlässen, und das hier war ein einzelner Anlaß. Vielleicht kann man andere nicht einfach zeitweise und bei Bedarf nachahmen, und um einmal wie das Vorbild zu handeln – ein einziges Mal – muß man sich ihm zunächst jederzeit und unter allen Umständen anverwandeln, das heißt auch, wenn man alleine ist und nicht so sein muß, und dafür braucht man stärkere Gründe als die, die man findet, das heißt diejenigen, die von außen kommen und uns überfallen. Man muß schon eine tiefe Notwendigkeit verspüren, einen ganz persönlichen Willen zum Wandel, was bei mir nicht der Fall war. Anfangs verhielt ich mich, wie ich dachte, daß er sich verhalten hätte, doch dann kam ein Moment, an dem ich mir nicht mehr sicher war oder es mir nicht vorzustellen vermochte, oder ich zog es vor, nicht sicher zu sein, oder stellte mir mich selbst nicht vor, und da befielen mich Zweifel, woran er wohl so gut wie nie litt; und da kam mir erneut der Gedanke, daß er mir helfen oder mir wenigstens Rat geben und mich nochmals bestärken könnte, oder mir wenigstens nicht davon abraten. Erst da rief ich ihn an, als seit meiner Ankunft und dem ersten Besuch bei den Kindern bereits einige Tage vergangen waren, seit meinem geraubten Anblick von Luisa, dem Wiedersehen mit meiner Schwester und meinem Vater und dem Telefonat mit meiner Schwägerin Cristina Juárez, zu einem Zeitpunkt, als ich seiner imaginären Spur schon ein paar Schritte gefolgt war.
Ich hatte damit begonnen, das Telefonbuch nach jenem seltenen Nachnamen durchzusehen, Custardoy, und hatte festgestellt, daß ich mit meiner Vermutung noch zu vorsichtig gewesen war, denn es gab nicht etwa wenige, sondern nur einen einzigen in ganz Madrid: Er lebte in der Calle de Embajadores, und sein Vorname begann leider nicht mit dem Buchstaben E wie Esteban, sondern mit einem vermaledeiten R wie Roberto, Ricardo, Raúl, Ramón oder Ramiro, wer hatte denn nach denen gefragt. Bestimmt lief sein Anschluß auf einen anderen Namen, womöglich auf den seines Vermieters, sofern er zur Miete wohnte, ich hielt es allerdings für unwahrscheinlich, daß er nicht über eine eigene Wohnung oder ein eigenes Atelier verfügte, wenn ihn die Sammler so fürstlich bezahlten, bestimmt für Fälschungen, die sie dazu verwendeten, in einer schlecht bewachten Kirche einen heimlichen Austausch vorzunehmen oder sie anstelle der Originale an naive Museen in der Provinz zu
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