Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied
auf ihre Diabetes achtgibt und ihre langen und verschreibungsgemäßen Spaziergänge unternimmt, ob ihr etwas Unangenehmes passiert ist oder jemand sie verletzt hat, ob die Arbeit sie erschöpft oder streßt oder ihr Befriedigung bringt, ob sie das Älterwerden fürchtet, wie sie die Zukunft sieht und wie sie auf die Vergangenheit zurückblickt, mit welchem Blick sie mich jetzt anschaut; und wen sie liebt. Es ergibt überhaupt keinen Sinn, daß man von allem zu fast nichts übergeht, wo wir doch nie aufhören, uns zu erinnern, und im Grunde dieselben sind. Alles ist in einem unerträglich extremen Ausmaß lächerlich und subjektiv, denn alles schließt sein Gegenteil mit ein: Dieselben Menschen am selben Ort lieben sich und ertragen einander nicht, und was bei ihnen feste Gewohnheit war, wird allmählich oder plötzlich – es läuft auf das gleiche hinaus, darauf kommt es nicht an – unannehmbar und unangebracht, wer ein Haus eingeweiht hat, findet, daß ihm der Zugang verwehrt ist, und das so selbstverständliche Berühren und Streifen, das geradezu unbewußt erfolgte, wird zu Kühnheit oder Affront, und es ist, als müßte man noch um Erlaubnis bitten, um sich selbst zu berühren; was am anderen gefiel und amüsant war, wird verabscheut und widert an und wird verflucht und ödet an, die gestern ersehnten Worte würden heute die Luft verpesten und Übelkeit erregen, man will sie auf keinen Fall hören, und die tausendmal gesagten sollen nicht mehr zählen. Auslöschen, aufheben, ausstreichen und schon vorher geschwiegen haben: Das ist das Ziel der Welt, und so gilt: Nichts ist und nichts ist etwas, dieselben Dinge und dieselben Tatsachen und dieselben Menschen sind sie und auch ihre Kehrseite, heute und gestern, morgen, später und früher. Und dazwischen gibt es nichts als Zeit, die sich bemüht, uns zu blenden, das einzige, wonach sie trachtet und was sie sucht, und so sind wir, die wir sie noch durchschreiten, nicht vertrauenswürdig, dumm und substanzlos und unfertig wir alle, ahnungslos, wozu wir fähig sein werden oder was uns am Ende erwartet, dumm ich, ich substanzlos, ich unfertig, auch mir darf niemand trauen …
›Wir hatten uns an dem Tag zum Mittagessen verabredet‹, antwortete Cristina. ›Das ist schon einige Monate her, es war vor der Sache mit dem Poller und dem häßlichen Schnitt, ich hatte noch keine Bedenken oder Sorgen, mehr noch, es war mir egal, was sie tat oder mit wem sie unterwegs war, solange es sie nur ein wenig aufmunterte, sie ist die ältere von uns, vergiß das nicht, ich hatte nie große Neigungen, sie zu beschützen, sie schon, wie das halt so ist. Luisa hatte anschließend ein Rendezvous mit ihm, bei ihm zu Hause oder in seinem Atelier, ich weiß nicht mehr. Wir haben etwas getrödelt, wir waren spät dran, und sie erschrak, als sie die Uhrzeit sah, sie hatten sich nämlich nicht oben verabredet, sondern am Hauseingang, um dann gemeinsam hochzugehen, oder vielleicht wollten sie vorher woandershin, keine Ahnung, der Gedanke, daß er auf sie warten müßte, war ihr ein Graus. Ich habe sie also hingefahren, sie war nicht mit dem Auto da; sie sagte, sie hätte eigentlich mit der U-Bahn fahren wollen, das gehe am schnellsten, aber von der nächstgelegenen Haltestelle war es noch ein Stück zu laufen, und dazu war die Zeit jetzt zu knapp, also habe ich sie bis vor die Tür gebracht. In der Gegend zu parken ist ein Ding der Unmöglichkeit, und ich konnte fast nicht anhalten, gerade lange genug, um sie aussteigen zu lassen, ich habe sie praktisch an der Ecke abgesetzt. Und so hat sie uns nicht einmal vorgestellt, wobei ich ihn, wie gesagt, vom Sehen her kannte, von hier und dort, aus dem Nachtleben. Ich habe die beiden nur aus dem Auto heraus zusammen gesehen, eine halbe Minute lang, während ich wartete, daß die Ampel an der Ecke auf Grün schaltete.‹
›In welcher Gegend war das? An welcher Ecke?‹
›Am Ende der Calle Mayor, hinter Bailén, beim Viadukt. Fast schon da, wo die Cuesta de la Vega anfängt.‹
›Die Hausnummer hast du nicht mehr im Kopf?‹
›Darauf habe ich nicht geachtet. Wozu willst du das wissen?‹
›Und auf welcher Straßenseite?‹
›Na, auf der einzigen, wo Häuser stehen. Auf der anderen steht doch inzwischen das Ungetüm, weißt du nicht mehr? Und wozu willst du das wissen?‹
Das Ungetüm war die Almudena oder das Museum der Schrecknisse der Ökumene, der schauderhafte moderne Dom, der mehr oder weniger dem Opus Dei gehört, so hat es
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