Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied
verhökern, ich hatte im Rahmen meiner Einschätzung der Lage in meinen Gedanken längst entschieden, daß dieser Mann ein Betrüger war, ein korrupter Mensch. Es konnte auch sein, daß er unter seinem zweiten Nachnamen im Telefonbuch stand, manche Leute arrangieren das so, um nicht ständig behelligt zu werden, wahrscheinlich störte ihn das Klingeln beim Arbeiten, es beeinträchtigte ihn in seiner Genauigkeit, in seiner Konzentration, und dann unterliefen ihm fehlerhafte Pinselstriche oder er stieß vor lauter Nervosität Löcher in die Leinwand, er war ja ein Künstlerischer, wer wußte, wie sein zweiter Nachname lautete, vermutlich nicht einmal Luisa. Ich rief auf gut Glück bei der Auskunft an und fragte nach einem Custardoy in der Calle Mayor, es war keiner bekannt, nur wieder der aus der Calle de Embajadores. Also begab ich mich zu dem kurzen Teilstück der ersteren Straße, dem Stück hinter der Calle Bailén und vor dem Anfang der Cuesta de la Vega und dem nahen Park, der Parque de Atenas heißt, ich kannte ihn kaum, war nur vor langer Zeit einmal mit dem Auto dort durchgefahren, und ich hatte Glück, es gab nämlich nur zwei Aufgänge, und in einem der Häuser befand sich eine Dependance der nahegelegenen Stadtverwaltung, demnach mußte es das andere sein, die Hausnummer 81 . Auf den Klingelschildern standen keine Namen, nur Stockwerk und Wohnung, vier Etagen und das Erdgeschoß. Es war fast Mittagszeit – das hatte ich nicht gut geplant –, und die riesige, aufwendig verzierte Holztür war zu, ich konnte also nicht erkennen, ob es vielleicht einen Hausmeister gab, den ich zu anderer Stunde hätte fragen können. Mir kam der Gedanke, ein paar Klingeln auszuprobieren und mich nach Custardoy zu erkundigen, doch falls ich zufällig die richtige erwischte und er mir persönlich antwortete, wütend über die unerwartete Unterbrechung seiner Betrügereien, würde ich mir schnell etwas ausdenken müssen; ich konnte behaupten, ich hätte ein Telegramm für ihn, und, wenn er mir öffnete, einfach nicht hochgehen, Postboten sind oft unhöflich und ihre Handlungen unbegreiflich, er würde eine Weile warten, ein paar Flüche ausstoßen und die Sache dann alsbald vergessen, ganz in Beschlag genommen von seiner falschen Kunst. Ich drückte auf die erstbeste Klingel, doch niemand antwortete. Ich versuchte es mit einer zweiten und hörte nach einiger Zeit die Stimme einer älteren Dame.
›Guten Tag, ist da Herr Esteban Custardoy?‹ fragte ich.
›Wie bitte?‹ Zweifellos handelte es sich um eine Dame, die schon etwas betagter war.
›Cus-tar-doy‹, wiederholte ich langsam und deutlich. ›Es-te-ban.‹
›Nein, da sind Sie hier falsch.‹
›Da muß ich mich in der Klingel geirrt haben. Würden Sie mir wohl die richtige Wohnung nennen? Ich bringe ein Telegramm.‹
›Ein Telegramm für mich? Von wem denn? Wir bekommen nie Telegramme.‹
›Nicht für Sie, gnädige Frau.‹ Mir wurde klar, daß ich mit ihr auf keinen grünen Zweig kommen würde. ›Es ist für Ihren Nachbarn, Herrn Custardoy. Welche Wohnung ist das denn bitte?‹
›Die hier? Zweiter Stock rechts‹, antwortete sie. ›Aber hier gibt es keinen Bujaraloz, da sind Sie falsch.‹ Über eine Sprechanlage hört man ja nie besonders gut, aber die Frau mußte auch taub sein und aus Aragonien stammen, wie Goya, sonst wäre ihr der Name dieses nicht allzu bekannten Dorfs bei Saragossa nicht so flüssig und leicht über die Lippen gekommen: Bujaraloz. Ich entschuldigte mich und bedankte mich bei ihr, es hatte keinen Sinn.
Dann wagte ich einen dritten Versuch, doch es kam keine Antwort, in Madrid gehen die Leute mittags kategorisch zum Essen. Ich versuchte es auch noch ein viertes Mal, und sogleich antwortete mir eine weitere Frauenstimme, sie war jünger und hoffnungsspendender.
›Esteban Buscató?‹ fragte sie. So hieß ein ehemaliger Basketballspieler, sie war wohl ein Fan, dachte ich. ›Nein, den kenne ich nicht, noch nie gehört, daß er hier wohnen würde.‹ Im Hintergrund war ein Knarzen zu hören und Meeresgeräusche, es war, als hätte ich eine Muschel am Ohr und in der Nähe ginge ein Schiff unter.
›Nein, Custardoy‹, wiederholte ich. ›Cus-tar-doy. Der Mann ist Maler, vielleicht können Sie mir sagen, auf welchem Stockwerk er wohnt oder sein Atelier hat. Er ist nämlich Maler, der Maler.‹
›Wir haben keinen Maler bestellt.‹
›Nein, nicht ich bin der Maler, gnädige Frau‹, versuchte ich es weiter, schon nicht mehr mit
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