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Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied

Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied

Titel: Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marias
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Eifersucht gäbe, und wie viele erst, wenn sie es täte. Oder aber er verstand die Fälle mit noch ungeschriebener und vielleicht deshalb für immer leerer Seite. ›Aber nein, wenn ich schieße, wird die meine nicht mehr leer sein‹, dachte ich, ›und wenn nicht, auch nicht völlig, nach all diesen Dingen und nachdem ich es in Betracht gezogen und auf ihn gezielt habe. Nie retten wir uns davor, etwas zu erzählen, nicht einmal, wenn wir glauben, wir würden die Seite leer lassen. Und so kommt es, daß die Dinge, obwohl sie nicht erzählt werden und nicht einmal geschehen, niemals ruhen können. Es ist furchtbar‹, sagte ich mir. ›Es gibt kein Entrinnen. Auch wenn sie nicht einmal erzählt werden. Auch wenn sie nicht einmal geschehen.‹ Ich betrachtete aufmerksam die Pistole am Ende meines Arms, eine alte Llama, so wie der Tod auf dem Gemälde von Baldung Grien die Uhr betrachtete, das einzige, wonach er sich richtete, und nicht etwa nach den Lebenden, die er an seiner Seite hatte, wozu auch, wenn er schon ihre Gesichter morgen vor sich sah. ›Und was spielt es dann noch für eine Rolle, ob sie geschehen. »Du und ich, wir werden zu denen zählen, die keine Spur hinterlassen«, hatte Tupra einmal zu mir gesagt, »egal, was wir getan haben, niemand wird sich darum bemühen, es zu erzählen, nicht einmal, es herauszufinden.«‹ ›Und außerdem‹, sagte ich mir weiter, ›wird ein Tag kommen, an dem alles nivelliert und das Leben tatsächlich nicht erzählbar und nichts für irgendwen von Bedeutung sein wird.‹ Doch jener Tag war noch nicht gekommen, und mich befiel Neugier und mich befiel Angst – ›And in short, I was afraid‹ –, und vor allem hatte ich Zeit, mich zu fragen, wie in jenen Versen, die ich kannte und die bekräftigten, daß es diese Zeit zweifellos geben würde: ›And indeed there will be time to wonder, »Do I dare?« and, »Do I dare?« Time to turn back and descend the stair …‹. Zeit mich zu fragen, ob ich es wagen und es wagen würde, im Wissen, daß es sie ebenso geben würde, um kehrtzumachen und die Treppe hinunterzugehen, und sogar, um mir die vollständige Frage zu stellen, die in dem Gedicht ein wenig später kommt – ›Do I dare disturb the universe?‹ – und die niemand sich stellt, bevor er handelt oder bevor er spricht, denn alle wagen, das Universum aufzustören und es zu belästigen, mit ihren flinken, kleinen Zungen und mit ihren elenden Schritten, ›So how should I presume?‹. Und das war es, was meinen Finger noch auf dem Abzugbügel ruhen ließ und meine Hand davon abhielt, den Hahn zu spannen, das war, was mir geschah, und außerdem wußte ich, daß immer noch Zeit sein würde, den Finger an den Abzug zu führen und abzudrücken, nachdem ich die Waffe mit einer einzigen Bewegung schußbereit gemacht hätte, Miquelín hatte es mir beigebracht.
    »Dreh dich um und setz dich da drüben hin«, sagte ich zu Custardoy und wies mit der freien Hand auf das Sofa, bestimmt hatte er sich dort schon mehr als einmal mit Luisa hingesetzt, vielleicht hatten sie sich sogar hingelegt. »Die Hände auf den Tisch, so daß ich sie sehen kann.« Vor uns stand ein niedriger Couchtisch, wie in fast allen Wohnzimmern der Welt. »Stütz die Handflächen fest auf und beweg sie nicht von der Stelle.«
    Custardoy drehte sich um, wie ich es ihm befohlen hatte, und nun sah ich endlich sein Gesicht von vorne und ohne Hemmnisse, so wie er meines. Er lächelte ein wenig, und das ärgerte mich, mit langen Zähnen, die sein scharfgeschnittenes Gesicht erhellten und ihm etwas Herzliches gaben, oder fast. Er wirkte ruhig und halb belustigt, trotz des Schlags gegen die Rippen, der hätte ihn eigentlich schmerzen und erschrecken müssen. Doch wahrscheinlich wußte er inzwischen, wer ich war, und sei es nur durch Intuition und logischen Ausschluß, und vielleicht verfügte er selbst über interpretatorische Fähigkeiten, vielleicht reichten sie aus, um sicher zu sein, daß Luisas Mann ihn nicht erschießen würde oder noch nicht, das heißt, nicht ohne vorher mit ihm geredet zu haben. (Auch denkt fast niemand ganz im Ernst, daß ein anderer das tun wird, nicht einmal, wenn er in die Mündung einer Waffe blickt.) Seine sehr großen und auseinanderstehenden und schwarzen Augen, die fast keine Wimpern hatten, waren wirklich unangenehm, und ich spürte sogleich ihren Zugriff, wie sie mich mit großer Schnelligkeit musterten und – wie soll ich sagen – mit einer Art Einschüchterungswillen, seltsam

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