Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied
meiner altmodischen Pistole in der Hand. Wenn es das zweite war, ein Überschuß an Selbstvertrauen, dann fragte ich mich, was hier schiefgelaufen war, wenn er noch immer so überheblich auftrat: Ich hatte ihm schon einen Schlag versetzt, ich hatte ihm schon ein wenig wehgetan, er mußte zur Kenntnis genommen haben, daß ich, wenn ich dazu imstande war, auch noch mehr tun konnte. Wenn er so weitermachte, würde er mich bald in Rage bringen – oder mir auf den Sack gehen, um in seiner Begrifflichkeit zu bleiben. Es war gut für mich, wenn er so weitermachte. Oder vielleicht nicht, vielleicht würde er es dazu bringen, daß ich mir in dieser Situation grotesk und kindisch vorkam.
»Hör gut zu«, sagte ich zu ihm. »Du wirst aufhören, dich mit Luisa Juárez zu treffen, und zwar sofort. Es ist vorbei. Keine Schläge mehr, keine Schnittwunden und keine blauen Augen. Du rührst sie nie wieder an.«
Ich rechnete damit, daß er das zuletzt Gesagte abstreiten und antworten würde: ›Ich weiß nicht, wovon du redest‹ oder dergleichen. Aber das war es nicht, was er mir erwiderte, das war es nicht, was ihm am wichtigsten war:
»Ach ja? Weil du’s sagst? Der Mann hat Nerven, Mensch. Dafür muß man echt Nerven haben.« Es war irritierend, wie er das sagte, als würde er sich nicht an mich wenden, sondern an einen unsichtbaren Dritten, einen imaginären Zeugen, mit dem er sich einen Spott erlaubte. »Das müßten schon sie und ich entscheiden, findest du nicht?«
Doch, natürlich fand ich das. Ich hatte kein Recht, mich einzumischen und so weiter, sie war frei, sie war erwachsen, möglicherweise war sie sogar glücklich mit ihm, sie hatte mich weder um meine Meinung noch um Schutz gebeten, sie hatte sich ja nicht einmal dazu herabgelassen, mich über ihr aktuelles Leben zu informieren, über ihr Leben, das mich nichts anging; natürlich sah ich das auch so. Aber all das war jetzt überflüssig, ich hatte beschlossen, mich einzumischen und Gewalt und Angst anzuwenden, und in so einem Fall muß man die Argumente und Prinzipien beiseitelassen, den Respekt und die moralischen Bedenken und die Skrupel, denn man hat entschieden, zu tun, was man tun will, und es durchzuziehen, seine Ziele zu erreichen, ohne zu fackeln, und wie in jedem einmal begonnenen Krieg geht es dann nicht mehr darum, wer recht hat. Ist die Linie einmal überschritten, so spielt es keine Rolle, ob man recht hat oder nicht, es geht allein darum, sich durchzusetzen, zu siegen und zu unterwerfen und sich zu behaupten. Er schlug sie, und das mußte aufhören, das war alles. ›Just make sure he’s out of the picture‹, wiederholte ich für mich. Wenn ich die Wohnung verließ, mußte Custardoy ausgelöscht sein, weggewischt wie ein Blutfleck, das war alles. Und meine Entschlossenheit wuchs.
»Ja«, gestand ich ihm zu, »das müßtet eigentlich ihr entscheiden, sie und du. Aber es wird anders kommen. Du wirst es entscheiden. Du wirst sie noch heute verlassen. Entweder sie oder die Welt, bitte sehr, das kannst du dir aussuchen, du wirst wissen, was du lieber verlassen magst. Aber dir ist wohl auch klar, daß du Luisa in beiden Fällen verläßt.«
Zum ersten Mal sah ich ihn zögern, vielleicht sah ich ihm sogar Furcht an. ›Ihm eine Kugel verpassen‹, dachte ich, ›jetzt hat er begriffen, daß das nicht schwer ist, daß es genügt, für zwei Sekunden nicht zu sein, der man ist, oder doch zu sein, der man nicht ist – man ist kein Mörder, und plötzlich ist man es doch und ist es für alle Ewigkeit –, wer eine Waffe in der Hand hat, kann plötzlich auf Ideen verfallen, es kann ihn überkommen, wenn ihm auch nur für einen Augenblick die Reichweite der Handlung aus dem Blick gerät, einer einzigen einfachen Handlung oder besser gesagt zweien, den Hahn spannen und den Abzug betätigen, das kann fast simultan ablaufen wie im Western, den Schlagbolzen zurückziehen und abdrücken, das hier und das dort, das eine und das andere, hoch und zurück und fertig, jedem kann die Hand ausrutschen und so auch der Finger, die Hand, die mit einer Bewegung eine Kugel in den Lauf oder in die Kammer schiebt, und dann krümmt sich der Zeigefinger nach hinten, die Waffe hier ist schwer, und es kostet Mühe, sie zu halten, aber die Hand und der Finger nehmen wie von selbst ihren Weg, als würde sie in Wahrheit niemand bewegen, kein Bewußtsein und kein Wille, sie streicheln und gleiten und rutschen fast dahin, es bedarf nicht einmal der Anstrengung, die ein Schwert
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