Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied
zu können, entscheidend war gewesen, daß dieser genau eine der Täuschungen bemerkte, denen man ihn unterwarf, und daß er darauf in nicht wiedergutzumachender Weise reagierte. So sehr nicht wiedergutzumachen und so unmöglich zu verbergen, daß seine Strafe ihn unverzüglich ereilen mußte. Tupra würde dieses Video nur zum Selbstzweck behalten, um es für sich betrachten oder sich an der Ausführung seines Plans ergötzen zu können, als eine Trophäe in seiner Sammlung. Weitere Verwendung würde er dafür nicht haben, da die wesentliche Tatsache gleich nach ihrem Eintritt offengelegen hatte: Dearlove had done the deed , und die ganze Welt war darüber bereits informiert. Er hatte einen jungen Mann mit einer Lanze umgebracht.
Doch letzten Endes hatte ich ihn dazu angestiftet. Oder vielleicht nicht ganz: Eher hatte ich die Tat erfunden, sie mir ausgedacht, sie dargelegt oder diktiert, ich hatte mir ihre Inszenierung vorgestellt. Ich hatte Tupra auf die Idee gebracht – niemand bedenkt je diese Gefahr, andere auf Ideen zu bringen, und dabei tut man das ohne Unterlaß, überall und zu jeder Stunde –, und ich konnte nicht umhin, mich zu fragen, wie viele meiner Interpretationen oder Übersetzungen wohl Konsequenzen gehabt hatten, von denen ich nichts erfuhr. Wieviele und welche. Ich hatte viel Zeit damit verbracht, jeden Tag mit immer größerer Ungezwungenheit und Sorglosigkeit zu urteilen, mir Stimmen anzuhören und Gesichter zu betrachten, Auge in Auge oder verborgen in dem Büro-Bahnhof oder auf Video, zu sagen, wem man trauen könne und wem nicht, wer töten und wer sich töten lassen würde und warum, wer Verrat üben und wer sich loyal zeigen würde, wer heuchelte oder wen ich witzig fand und welche Möglichkeiten jeder einzelne im Blut trug, wie ein Romancier, der weiß: Was eine seiner Figuren sagt oder erzählt oder was er ihnen zuschreibt oder sie tun läßt, das wird den Rahmen seines Romans nicht überschreiten und niemandem schaden, denn so lebendig sie sich für ihn auch anfühlen mögen, sie bleiben doch Fiktion und werden niemals einem wirklichen Wesen ins Gehege kommen (das heißt, keinem, der noch bei Trost ist). Aber bei mir lag die Sache anders, ich schrieb nicht mit Tinte auf Papier über jene, die niemals existiert, die niemals ihren Fuß auf die Erde gesetzt oder die Welt durchschritten haben, vielmehr beschrieb und entzifferte ich Menschen aus Fleisch und Blut und dozierte und weissagte über sie, und sowohl wenn ich richtig als auch wenn ich falsch lag, konnte dies, wie ich jetzt sah, in den Händen eines Mannes wie Tupra unheilvolle Folgen haben und ihr Schicksal bestimmen, diesmal hatte er sich nicht darauf beschränkt, Sir Punishment und Sir Thrashing zu sein, sondern auch Sir Death und Sir Cruelty und womöglich Sir Vengeance . Und ich war nicht sein Werkzeug gewesen, sondern etwas Ungewöhnlicheres und vielleicht Schlimmeres, seine Inspiration und sein unfreiwilliges Flüstern ins Ohr, sein unbesonnener und gewissenloser Iago. Mich beschäftigte nicht besonders, und es war auch nicht meine Sache, was er gegen Dearlove gehabt haben mochte, ob er ihm aus eigenem Antrieb eine Falle gestellt hatte – meine Falle – oder in extravaganter Mission für den Staat oder im gut bezahlten Auftrag irgendeiner privaten Privatperson. Das war das wenigste. Was mich quälte, war der Gedanke, daß er meinen Plan, der keiner war, in die Tat umgesetzt hatte und daß er, um ihn mit Erfolg zu krönen, nicht gezögert hatte, das Leben eines jungen Mannes zu opfern: ›Seltsam, selbst den eigenen Namen wegzulassen‹, diesmal ja, und jenes Opfer hatte noch nicht einmal einen, es hieß nur R. D. Besorgniserregender- und unwahrscheinlicherweise war ich bisher nicht auf die schlimmste Tatsache von allen gekommen, das, was mir – ich begriff es sofort, die drei Zeitungen in jenem Flugzeug ausgebreitet auf den Knien – für den Rest meines Lebens am meisten nachgehen würde. Sicher, irgendwann würde ich die Verbindung als eine entfernte sehen wollen, vielleicht auch können und tatsächlich sehen – so würde es sein, sie würde mir fern und unbeabsichtigt erscheinen, zumindest von meiner Seite, und mein Gefühl der Verantwortung würde sich abschwächen, und alles würde einem Traum gleichen, und mit Glück würde ich mich selbst täuschen und ihn zum Verschwinden bringen, vor allem, wenn der Rand gelöscht wäre und ich mir eines Tages sagen könnte: ›Aber das war in einem anderen Land‹ –, doch
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