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Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied

Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied

Titel: Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marias
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ich auf einer meiner Reisen mit Tupra gelesen hatte, auf einer Zugfahrt: ›Why do I tell you these things? You are not even here‹. Oder, was dasselbe ist: ›Warum erzähl ich dir das alles? Du bist nicht einmal da.‹


    D as war das letzte, was geschah, bevor alles anders wurde. Ich bat die Stewardeß um eine englische Zeitung, ich mußte mich wieder an das andere Land gewöhnen. Ich hatte an dem Tag auch noch keine spanische Zeitung durchgesehen, ich war zu tief in Gedanken, um mir die äußere Welt erzählen zu lassen, tatsächlich lag El País zusammengelegt auf meinen Knien, ich hatte das Blatt noch nicht aufgeschlagen. Die Stewardeß bot mir den Guardian, den Independent und die Times an, ich nahm die beiden ersteren, den schauderhaften Niedergang der dritten unter ihrem derzeitigen südlichen Herrscher ertrage ich nicht mehr. Ich sah auf die Titelseite des Guardian, und mein Blick wanderte sofort – die Namen, die wir kennen, rufen uns, sie erregen blitzschnell unsere Aufmerksamkeit – zu einer Nachricht, bei der mir wahrscheinlich die Augen aus den Höhlen treten, in Windeseile zogen sie weiter auf den Titel des Independent, damit ich es auch wirklich glauben konnte und bestätigt bekam, daß es sich weder um einen schlechten und absurden Scherz noch um eine Einbildung handelte. Beide Zeitungen brachten die Meldung, sie konnte nicht falsch sein, und obwohl sie nicht allzuviel Platz einnahm oder nicht den wichtigsten, stand sie bei beiden auf der ersten Seite: ›Dick Dearlove des Mordes verdächtigt‹, lautete die eine Titelzeile, und die andere war ganz ähnlich: ›Dick Dearlove nach gewaltsamem Tod eines Minderjährigen verhaftet‹. Selbstverständlich stand in keiner von beiden ›Dick Dearlove‹, sondern sein wahrer Name, Dearlove nenne nur ich ihn seit einiger Zeit.
    Ich suchte nach den entsprechenden Seiten und las sie erst beklommen und begierig, dann entsetzt und mit wachsendem Abscheu vor Tupra und vor mir selbst, oder eigentlich traf mich letzterer wie ein Donnerschlag. Die Informationen waren sehr unvollständig und die Fakten verwirrend, und die knappen und eher kryptischen Ausführungen von Dearloves Sprecher und seinen Anwälten trugen nicht gerade zur Klärung bei; sie waren es, die am Morgen nach dem Mord New Scotland Yard verständigt hatten, was vermuten ließ, daß sie über einige Stunden verfügt hatten, um die Situation abzuwägen und die beste Verteidigungsstrategie vorzubereiten und abzusprechen, worüber allerdings kaum berichtet wurde. Soweit ich weiß, hält man sich in England, sehr im Unterschied zu den Verhältnissen in Spanien, wo vom ersten Augenblick an nichts als verantwortungsloses Gekeife herrscht, wenn nicht gar massive Vorverurteilungen, peinlich genau an das Verbot, die Vertraulichkeit der Ermittlungen zu verletzen und Indizien und Zeugenaussagen für einen künftigen Prozeß vorab zu veröffentlichen, und niemand, der möglicherweise zu einem Verbrechen aussagen muß, ist befugt, seine Version schon im Vorfeld der Gerichtsverhandlung der Presse zu erzählen. Daher beschränkten sich Anwälte wie Journalisten darauf, vorsichtig zu spekulieren, in vagen Andeutungen und mit bemerkenswerter Diskretion. Man sprach von einem möglichen Entführungsversuch, einem möglichen versuchten Raubüberfall (›burglary‹), auch von einem möglichen Verbrechen aus Leidenschaft. Das Opfer war siebzehn Jahre alt, offenbar bulgarischer oder russischer Herkunft (man wußte das nicht genau und auch nicht, ob es sich um einen britischen Staatsbürger handelte oder nicht; man vermutete, daß das eher nicht der Fall sei), und es tauchten nur seine Initialen auf, die merkwürdigerweise mit denen des Mannes übereinstimmten, der ihn getötet hatte, für uns also R. D. Wie dem auch sein mochte, und ich wußte sofort, wie es im wesentlichen gewesen war, eines stand offenbar fest: Der Sänger hatte jenem sehr jungen jungen Mann eine Lanze in die Brust und in den Hals gestoßen, eine von mehreren, die sich in seinem Haus befanden, sie hingen in dem ans Eßzimmer angrenzenden Salon, vor zwei Nächten war das gewesen. Was wahrscheinlich bedeutete, daß die Fernsehsender in einem guten Teil der Welt, vor allem die britischen, aber auch die in meinem Land, die Sache schon einen ganzen Tag lang unter die Lupe nahmen, ganz zu schweigen von den Millionen anonymer oder pseudonymer Stimmen im Internet. Aber ich hatte weder ferngesehen noch aufs Internet zugegriffen.
    Einen Moment lang bedauerte

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