Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied
oder ein Abend trostlos erscheinen sollte, dann stünde mir die Möglichkeit offen, Gesellschaft und Tanz auf der anderen Seite des Square oder Platzes zu suchen, in dieser zwanglosen, fröhlichen Wohnung, deren Bewohner außerdem meinen Schlußfolgerungen und Vermutungen widerstand, meine interpretatorischen Fähigkeiten hemmte oder sich ihnen entzog, etwas, das so selten geschah, daß es ihm etwas leicht Geheimnisvolles verlieh. Diese Aussicht auf einen hypothetischen Besuch, dieser mögliche oder künftige Halt hatten bewirkt, daß ich mich noch sicherer und leichter fühlte, wie mit einem Auffangnetz. Der heutige Tag war wahrlich trostlos, und solange ich nicht mit Tupra sprechen konnte, erwartete mich ein Wochenende, an dem ich so gut wie nichts zu tun hatte, ein per se trostloser und ›aus der Unendlichkeit verbannter‹ Sonntag, ›banni de l’infini‹, wie Baudelaire einmal geschrieben hatte und wie Sonntage in England zu sein pflegen, ich kannte sie seit vielen, vielen Jahren, seit ich zum ersten Mal hier gelebt hatte, in Oxford, und ich wußte, daß das keine harmlosen matten Sonntage waren, die man auf Zehenspitzen durchqueren mußte wie überall sonst, ohne ihre Aufmerksamkeit zu erregen oder ihnen irgendeine Beachtung zu schenken, sondern etwas mehr, etwas Beschwerlicheres und Abgründigeres und Langsameres als an jedem anderen Ort, den ich kenne. Vielleicht war also der Augenblick gekommen, von dem Auffangnetz Gebrauch zu machen, das dieses fröhliche Trio bildete, und außerdem machte es den beiden Frauen offenbar nichts aus, sich vor mir zu zeigen, vor allem derjenigen, die mir immer am besten gefallen hatte und die am meisten sehen ließ. Ich fragte mich kurz, ob ich hinüberlaufen sollte, hinunter auf den Platz, ihn überqueren und nach oben gehen, doch schnell verwarf ich den Gedanken wieder. ›Nein, jetzt ist das noch sinnloser als sonst‹, dachte ich, ›höchstwahrscheinlich werde ich bald – in ein paar Wochen oder einem Monat, höchstens zwei – nicht mehr in diesem Apartment leben und nicht mehr auf diesen Square hinausschauen, und dann werden diese Leute nur noch eine angenehme Erinnerung sein, die langsam verschwimmt. Und meinen Tänzer interpretiere ich leider schon etwas mehr, weil ich nicht umhin kann, ihn mit Custardoy in Verbindung zu bringen und eine Affinität zwischen ihnen zu sehen.‹ Ich trat also mit einem Lächeln erneut ans Fenster und schüttelte den Zeigefinger zum Zeichen der Ablehnung. Und dann öffnete ich die Hand und hob sie zu einer freundschaftlichen Geste, womit ich ihnen ›danke‹ sagte und vielleicht auch ›Leb wohl‹.
Ich zog mich zurück in die Wohnung und machte das Fenster zu. Dann beschloß ich, das Nötigste für den fast leeren Kühlschrank einkaufen zu gehen, in einem nahen Lebensmittelgeschäft, wo auch Zeitschriften und Tageszeitungen verkauft wurden, aber jetzt war mir nicht mehr danach, die Sun oder ein ähnliches Blatt mitzunehmen; und als ich nach Hause zurückkam, hatte ich auch keine Lust, den Fernseher einzuschalten, bestimmt sprach man auf irgendeinem Sender, wenn nicht auf den meisten, vom schrecklichen Verbrechen des Dr. Dearlove, des früheren Zahnarzts, nun ein neuer Hyde, der nie wieder zu Jekyll werden konnte: Fortan würde er ein lasziver Mörder sein, bis zum Jüngsten Gericht, wenn, wie man in anderen Zeiten geglaubt hätte – in den Zeiten des festen Glaubens –, ein bulgarischer oder russischer Junge namens Danew oder Dejanow, Dimitrow oder Dondukow ihm gegenübertreten und in den bitteren Worten eines jungen Toten Anklage gegen ihn erheben würde. Oder vielleicht würde er sich an Tupra richten oder vielleicht gar an mich. Eigentlich war es mir am liebsten, wenn ich nicht viel erfuhr, weder über ihn noch über Dearlove, hauptsächlich, weil ich das nicht brauchte und es mein Bedauern nur gesteigert hätte. Ich wußte schon genug, und die Presse würde dem nur sensationslüsterne und irrige Spekulationen hinzufügen. Niemand aber würde erfahren, daß ein anderer hinter der Sache steckte, ein Experte für erzählerischen Abscheu oder Horror und für den Kennedy-Mansfield-Komplex und seinen so wirksamen Fluch, und daß dieses Verbrechen keineswegs ein Werk des Zufalls oder einer schlechten Nacht oder einer bloßen geistigen Umnachtung war. Danew oder Dondukow konnte nicht mehr erzählen, wer ihn angeheuert hatte und wie und mit welchem Auftrag, und ich war nicht in der Lage, irgend etwas zu beweisen. Ich hatte das auch
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