Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied

Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied

Titel: Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marias
Vom Netzwerk:
Platzwunden, auch ich hatte mit scheinbarer Kälte eine Hand gebrochen und eine Wange aufgeritzt, oder vielleicht mit wirklicher Kälte, wie hatte ich das nur tun können. Tupra hatte gesagt: ›Hier wird nichts weggeworfen, es wird nichts ausgehändigt und nichts zerstört, diese Tracht Prügel ist hier in Sicherheit, sie ist nicht dazu bestimmt, daß sie jemand sieht. Vielleicht ist es aber eines Tages angebracht, es Pat zu zeigen, wer weiß, um sie von etwas zu überzeugen, daß sie bleibt, daß sie uns nicht verläßt, man kann nie wissen.‹ Vielleicht würde er es ihr mit den Worten zeigen: ›Du wirst doch nicht wollen, daß deinem Vater noch etwas zustößt.‹ ›Welch Glück‹, dachte ich, ›daß meine Familie weit weg ist, daß ich hier in London so alleine bin.‹ Doch vielleicht würde er nicht so weit gehen müssen, um Pat zu überzeugen: Schließlich war sie zwar Halbspanierin, aber sie handelte doch im Dienst ihres Landes. Ich nicht.


    I n der Nacht schlief ich schlecht, weil ich den Entschluß gefaßt hatte, sehr früh aufzustehen. Ich würde nicht einen ganzen Sonntag lang tatenlos in London herumsitzen und grübeln, fast ohne Aufgabe (was zu erledigen war, hatte ich vor meiner Reise abgeschlossen), der Fernseher hätte mich belauert und ich hätte nur warten können, daß es Montag wurde, um Tupra sehen zu können. Mein letzter Besuch bei Wheeler lag ziemlich weit zurück, und außerdem hatte ich schon von Madrid aus ein schweres Geschenk für ihn mitgeschleppt: das große, zweibändige Buch im Schuber mit den Propagandaplakaten aus dem Spanischen Bürgerkrieg, das ich in einem Antiquariat erstanden hatte, es waren einige – und nicht nur spanische, und Zeichnungen waren auch abgebildet – mit demselben oder einem ähnlichen Motiv wie dem careless talk oder der ›unvorsichtigen Unterhaltung‹. Und wenn man etwas unter Mühen transportiert hat, ist man ungeduldig, es zu überreichen, mehr noch, wenn man überzeugt ist, daß der Empfänger sich darüber freuen wird. Als ich an diesem Samstagabend von der U-Bahn-Station Baker Street zurückkam, war es schon etwas zu spät, um ihn anzurufen, ich entschloß mich also, am Morgen nach Oxford zu fahren und ihm von dort aus Bescheid zu geben, das wäre kein Problem, er ging fast nicht aus dem Haus und würde sich freuen, wenn ich ihn in seinem Haus am Cherwell-Fluß besuchte und zum Mittagessen blieb oder gar den Tag bei ihm verbrachte.
    Ich begab mich also zum Bahnhof Paddington, von wo ich in meiner fernen Oxforder Zeit so oft abgefahren war, und nahm noch vor acht Uhr morgens einen Zug, ohne zu merken, daß es sich um einen Bummelzug handelte, mit Umsteigen und Aufenthalt in Didcot. An jenem halb verfallenen Bahnhof hatte ich zusammengerechnet etliche Stunden gewartet, noch mehr oder minder in meiner Jugend, und einmal war ich überzeugt gewesen, etwas Wichtiges zu verlieren, weil ich mich nicht – oder fast nicht – getraut hatte, eine Frau anzusprechen, die ebenfalls auf den verspäteten Zug wartete, der uns nach Oxford bringen sollte. Wir hatten geraucht, während wir die Zeit verstreichen ließen, und der zögerliche Lichtkegel beleuchtete nur die Kippen ihrer Zigaretten, die neben den meinen auf dem Boden lagen (was für tolerante Zeiten), ihre englischen Schuhe, die eines jungen Mädchens oder einer naiven Tänzerin, mit Schnalle und sehr niedrigem Absatz und abgerundeter Spitze, und ihre Knöchel, die im Halbdunkel makellos wirkten. Später, als ich schon in dem säumigen Zug saß und ihr Gesicht gut sehen konnte, wurde mir klar und ist es noch jetzt, daß sie die Frau ist, die mich in meinen jungen Jahren auf den ersten Blick am meisten bewegt hat, obwohl mir bewußt ist, daß diese Äußerung – so will es die Tradition der Literatur und der Wirklichkeit – nur für jene Frauen gelten kann, die die jungen Männer niemals kennenlernen. In jener Zeit war Luisa mir noch nicht begegnet, und meine Geliebte war Clare Bayes, und ich kannte noch nicht einmal mein Gesicht von damals, und doch interpretierte ich jene junge Frau vom Bahnhof in Didcot.
    Der Zug hielt wie üblich in Slough und Reading und auch in Maidenhead und in Twyford und in Tilehurst und in Pangbourne, und nach über einer Stunde stieg ich in besagtem Didcot aus, wo ich einige Minuten Aufenthalt hatte – diese so vertrauten Bahnsteige –, bis ein zweiter träger und lustloser Zug einfuhr. Und just an jenem Ort, während ich vage an die nächtliche junge Frau

Weitere Kostenlose Bücher