Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied
teilen, um mir Luft zu machen, vielleicht um mich zu überzeugen, zumindest um zu argumentieren oder zu Übungszwecken. Ich drückte die kaum gerauchte Zigarette aus, bevor mich noch jemand dazu aufforderte. Dann zahlte ich und wir gingen. Ich bot ihr an, sie im Taxi nach Hause zu begleiten, aber wir waren zu nahe bei mir, sie lehnte ab. Ich brachte sie also zur U-Bahn-Station Baker Street, und dort verabschiedeten wir uns. Als ich mich bei ihr bedankte, antwortete sie: »Ich bitte dich.«
»Wie geht es deinem Vater?« erkundigte ich mich. Seit jener Nacht in meinem Appartment waren wir nicht wieder auf ihn zu sprechen gekommen. Sie hatte mir nichts erzählt, und ich hatte nicht gefragt. Ich nehme an, wenn ich es nun doch tat, so weil ich das Gefühl hatte, daß wir uns gerade Lebwohl sagten. Obwohl wir uns am Montag in dem namenlosen Gebäude wiedersehen würden und vielleicht auch noch an ein paar weiteren Tagen.
»Nicht schlecht. Er spielt nicht mehr«, antwortete sie.
Wir küßten uns, und ich sah sie verschwinden, nach drinnen, nach unten, die Londoner U-Bahn geht ziemlich tief in die Erde. Womöglich beneidete sie mich darum, daß ich in der Lage war, nicht bei der Gruppe zu bleiben, so wie ich es ihr angekündigt hatte. Daß es mir noch möglich war, der Gruppe den Rücken zu kehren, ich war viel kürzer dabei als sie. Auch sie hinderte im Prinzip nichts daran. Aber gewiß würde Tupra sie um jeden Preis halten wollen, wie auch die anderen, auch mich. Er unternahm seine notwendigen Schritte, und zweifellos vertraute er darauf, uns damit nicht zu verscheuchen, wer wußte, ob er sie sorgfältig abwog und maß und dabei auch dies mitbedachte, ob er einkalkulierte, wann wir abgebrüht genug waren, um bestimmte Erschütterungen zu ertragen. Es gab Wheeler zufolge sehr wenige Menschen mit unserem Fluch oder unserer Gabe, immer weniger davon, und er hatte in sehr verschiedenen Zeiten gelebt und konnte das daher mit untrüglichem Blick erkennen. ›Solche Menschen gibt es kaum noch, Jacobo‹, hatte er mir gesagt. ›Es gab nie viele, eher sehr wenige, daher war die Gruppe immer ziemlich beschränkt und verstreut. Aber in den heutigen Zeiten herrscht absoluter Mangel, es ist weder ein Klischee noch Übertreibung, wenn man sagt, daß wir in rapidem Aussterben begriffen sind. Unsere Zeiten sind kleinmütig, zimperlich, nachgerade duckmäuserisch geworden. Niemand will sehen, was man sehen muß, niemand wagt hinzusehen, schon gar nicht, eine Wette einzugehen oder zu wagen, sich zu wappnen, vorauszusehen, Urteile abzugeben, von Vorurteilen ganz zu schweigen, was ein kapitaler Affront ist, oh, das ist Menschheitsbeleidigung, eine Verletzung der Würde: des Vorverurteilten, des Vorurteilenden, von wem nicht. Niemand wagt noch, sich zu sagen oder einzugestehen, daß er sieht, was er sieht und was oft da ist, vielleicht stumm oder sehr einsilbig, aber offenkundig. Niemand will wissen; und davor, vorher zu wissen, na ja, davor hat man Horror, biographischen Horror und moralischen Horror.‹ Und bei anderer Gelegenheit, in einem anderen Kontext, hatte er mich ermahnt: ›Du mußt bedenken, daß die meisten Leute dumm sind. Dumm und oberflächlich und leichtgläubig, du hast keine Ahnung, wie weit das geht, ein ewiges weißes Blatt ohne die geringste Spur, ohne Widerstand.‹
Nein, Tupra würde nicht ohne weiteres bereit sein, uns zu verlieren, die wir ihm dienlich waren. Ich glaubte, daß ich ihm gegenüber noch keine schweren Schulden oder Treuepflichten angehäuft noch allzu starke Bande geknüpft hatte; ich war weder eine Verbindung eingegangen, noch hatte ich mich verwickelt oder verstrickt, ich würde nicht das Messer ziehen müssen, um eines der Bänder zu durchtrennen, die am Ende drücken. Ich hatte versucht, ihn in bezug auf Incompara zu täuschen, doch nach der Sache mit Dearlove, auch wenn es nicht dasselbe war, waren wir jetzt mehr oder weniger quitt. Die junge Pérez Nuix dagegen hatte er möglicherweise in verschiedener Hinsicht in der Hand, und für sie würde es keine leichte Trennung oder Möglichkeit geben, zu desertieren. Mir fiel eine Bemerkung von Reresby ein, als er auf dem Video das Bild mit dem verprügelten Vater angehalten hatte, der arme Mann reglos auf dem Billardtisch, blutend aus der Nase und den Augenbrauen, vielleicht aus den Wangenknochen und aus anderen Öffnungen, die Hände zerschmettert, mit denen er vergeblich versucht hatte, sich zu schützen, ein geschwollener Haufen Fleisch voller
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