Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied
so gut, daß er seines Verhaltens morgen sicher sein könnte‹, hatte der Heilige Augustinus geschrieben, dachte ich, erinnerte ich mich.) Ja, ein wenig zumindest täuschte sie Überraschung vor:
»Ach nein? Wann hast du das entschieden, während deines Aufenthalts in Madrid oder erst jetzt nach der Rückkehr? Bist du sicher?«
»Ich bin fast sicher«, gestand ich. »Vorher will ich mit Tupra reden. Er ist heute nicht in der Stadt.«
»Und das soll der Grund sein, die Sache mit Dearlove? Was wirst du Tupra denn sagen? Wonach wirst du ihn fragen, nach dem Warum? Das geht nur ihn etwas an, oder vielleicht nicht einmal das, jedenfalls wird er dir die Gründe nie nennen. Manchmal kennt er sie selber nicht, er erhält eine Anweisung, er stellt sie nicht in Frage, er befolgt sie und fertig.« Sie starrte in ihr Glas. Ich führte eine Zigarette an die Lippen, während ich darauf wartete, daß sie weitersprach, ich würde tun, als wenn nichts wäre, bis sich jemand beschwerte. »Du mußt das selber wissen, Jaime, aber mir kommt es übertrieben vor. Wie Tupra sagt: Das ist der Stil der Welt, mehr nicht. Warte doch, bis du die Angelegenheit verdaut hast. Warte, bis du begreifst, daß du nichts damit zu tun hast, was Dearlove und dem bulgarischen Jungen passiert ist. Ideen schweben umher, und nichts überträgt sich so einfach wie sie. Sobald du die Idee in den Raum gestellt hattest, gehörte sie nicht mehr dir, sie war einfach da. Und ansteckend wirken können sie alle. Warte ein wenig, und der Tag wird kommen, an dem du mir das zugibst.«
»Das wäre nicht der einzige Grund«, antwortete ich. »Aber es trägt zu meinem Entschluß bei. Ich glaube, ich habe weder hier noch in Madrid entschieden, sondern während der Reise, im Flugzeug.«
»So so, ein Mann mit Prinzipien, hm?« Und ihr Ton nahm eine sarkastische Note an; doch dann wurde sie gleich wieder ernst: »So prinzipientreu bist du auch wieder nicht, Jaime. Das kann niemand sein, der längere Zeit diese Arbeit gemacht hat. Die Prinzipien legst du dir jetzt erst zu, in kühner Manier, aber das steht auf einem anderen Blatt.« Manchmal verwendete sie solche hochsprachlichen Wendungen, wegen der unvermeidlich literarischen und nicht gelebten Ausprägung ihres Spanisch. »Das ist schon in Ordnung, ich kritisiere das gar nicht; es ist hilfreich, es ist nicht ohne Verdienst, wir alle sollten mehr davon haben. Aber was man sich kurzfristig zulegt, das kann man auch wieder ablegen.«
Mir fiel ein, was Tupra mich am Tag meiner ersten Interpretation von Personen gefragt hatte (an dem Tag, an dem er mich zum ersten Mal angestachelt hatte: ›Sagen Sie irgend etwas, was Ihnen einfällt, reden Sie‹), nachdem er mich eine Weile in seinem Büro zurückgehalten hatte, damit ich ihm meine Meinung über den General oder Oberst oder Major Bonanza sagte, was er auch sein mochte, den Venezolaner: ›Erlauben Sie mir die Frage: Bis zu welchem Grad sind Sie fähig, von Prinzipien abzusehen? Ich meine, bis zu welchem Grad tun Sie es gewöhnlich? Sie beiseite lassen, die Theorie, nicht?‹ hatte er gesagt. Und dann hinzugefügt: ›Das tun wir alle ab und zu, oder wir könnten nicht leben: aus Zweckmäßigkeit, aus Furcht, aus Notwendigkeit. Aus Aufopferung, aus Großmut. Aus Liebe, aus Haß. In welchem Ausmaß tun Sie es gewöhnlich? Verstehen Sie mich.‹ Und ich hatte ihm erwidert: ›Das kommt darauf an. Ich kann ziemlich von ihnen absehen, wenn es darum geht, bei einer Unterhaltung eine Meinung zu vertreten. Etwas weniger, um zu urteilen. Um Freunde zu beurteilen, sehr viel mehr, ich bin parteiisch. Um zu handeln, sehr viel weniger, glaube ich.‹ Ich hatte geantwortet, fast ohne nachzudenken. Nun ja, was wußte und was weiß ich schon. Womöglich hatte Pérez Nuix ein Stück weit recht, und ich legte mir jetzt Prinzipien zu oder beschloß, sie nicht beiseitezuschieben. Unrecht hatte sie mit ihrer letzten Äußerung: Nicht alles, was man sich zulegt, kann man wieder ablegen.
»Nicht alles«, sagte ich. »Eine Tätowierung kann man nicht ablegen. Und nicht immer. Es gibt Verpflichtungen, die man ebenfalls nicht ablegen kann. Deshalb fällt es auch so schwer, sie sich zuzulegen. Und bei anderen ist es ausgesprochen ratsam, sie sich zuzulegen, damit es keinen Weg zurück gibt.«
Es blieb nicht mehr viel zu sagen. Ich hätte mir gleich denken können, daß sie nichts wußte. Möglicherweise hatte ich sie nur angerufen, um meine Ungeduld zu bekämpfen und meine Konsterniertheit zu
Weitere Kostenlose Bücher