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Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied

Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied

Titel: Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marias
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ein Zustand, als würde der Wille ihm entgleiten: Es war das dritte Mal, daß ich das miterlebte, es konnte also nicht so selten vorkommen, wie er behauptet hatte. Wie auch bei den anderen beiden Gelegenheiten war es ihm nicht inmitten eines Satzes passiert, den ich ihm mit Mutmaßungen hätte vervollständigen können, wie man es bei Stotterern tut, sondern gleich im Ansatz. Doch außerdem zeigte er diesmal nicht auf etwas, um mir die Richtung zu weisen (ein Kissen beim ersten Mal, die Originalzeichnung von Eric Fraser, die der Hubschrauber aufgewirbelt hatte, beim zweiten). Er bedeutete mir lediglich mit einer Handbewegung, ich möge Geduld haben und abwarten, als wüßte er, daß es nicht lang dauern würde und daß es das Beste war, ihn in Ruhe zu lassen, ich sollte meinen bereits gestellten Fragen keine weiteren hinzufügen, ich sollte ihn nicht drängen. Er hatte die Lippen wieder aufeinandergepreßt, als ob sie zusammengeklebt wären und es ihn Mühe kostete, sie zu lösen. Sein Gesichtsausdruck hatte sich jedoch nicht verändert, er zeugte noch immer von aufmerksamer Nachdenklichkeit, als machte er sich bereit, mir all das zu sagen, was er mir zu sagen hatte, sobald er konnte, sobald er die Sprache wiederfand oder das Wort, das ihm im Hals steckengeblieben war. Nach etwa zwei Minuten war es soweit. Er erwähnte das Hemmnis mit keinem Wort, als hätte es die stumme Zeitspanne nicht gegeben:
    »Das Problem ist nicht die Gruppe, Jacobo«, sagte er. »Es liegt ganz bei dir, aber wenn du aufhörst, wird dir das keineswegs die Sicherheit geben, daß dir nicht noch einmal geschieht, was du glaubst, daß dir geschehen ist. In Wirklichkeit ist es gar nicht dir geschehen. Es ist schlicht und einfach geschehen, und solche Dinge kommen überall vor. Niemand kann kontrollieren, welcher Gebrauch von seinen Ideen und Worten gemacht wird, noch kann man deren Konsequenzen bis ins letzte voraussehen. Im Leben ganz allgemein. In jedem Einzelfall. Es ist sinnlos, daß du mich fragst, ob ich wußte oder nicht wußte: Niemand weiß je, was er in Gang setzt, unter keinen Umständen, und alles kann zu jedem beliebigen Zweck dienen, zu diesem und zum Gegenteil. Die Gefahr, daß du Schicksalsschläge auslöst, lag hier nicht höher, als wenn du deine Wohnung in Madrid, deinen Platz an Luisas Seite nie verlassen hättest.« Ich mußte kurz an Custardoy denken, an meine Hand mit der Pistole und an seine kaputte Hand. Wheeler, nun wieder im Vollbesitz seiner Stimme, sah mich weiter fest an, als würde er mich genau prüfen. Unwillkürlich fühlte ich mich beobachtet, oder mehr noch: bespitzelt, entziffert, ausgewertet. Schließlich fügte er hinzu, als wagte er nach der Untersuchung eine Diagnose: »Doch, du wirst damit leben können, keine Sorge. Im Unterschied zu Valerie wirst du mit deiner Erfahrung leben können, das versichere ich dir, oder mit der, die du zu deiner gemacht hast. So seltsam dir das vorkommen mag, in mancher Hinsicht kenne ich dich besser als sie. Dich haben wir analysiert, bei ihr kamen wir zu spät.«
    Ich wußte nicht, wonach ich ihn zuerst fragen sollte, nach der Analyse oder nach seiner Frau Valerie, die er schon einmal erwähnt hatte, an diesem Sonntag lag sie ihm auf der Zunge. Ich dachte, wenn ich allzu große Neugier zeigte, zu erfahren, was aus ihr geworden war, könnte er einen Rückzieher machen und mir wieder antworten: ›Das … Laß es mich ein andermal erzählen, wenn es dir recht ist. Wenn du nichts dagegen hast.‹ Möglicherweise würde es kein anderes Mal geben. Besser, diese Erzählung kam von selbst, wenn sie es denn tat.
    »Mich haben Sie analysiert«, wiederholte ich. »Ich habe einen Bericht über mich gefunden, in einer alten Kartei im Büro. Wer hat ihn verfaßt? Waren Sie das?«
    »O nein, das war nicht ich, Berichte habe ich nie geschrieben, ich habe sie nur mündlich gegeben, du weißt schon, nur das Wesentliche, ein schneller Überblick; der Rest, wie bürokratisch, wie langweilig. Nein, das muß Toby gewesen sein, zu der Zeit, als du in Oxford unterrichtet hast. Er war es, der dich entdeckt hat, wenn ich das so sagen darf. Der erste, der von dir erzählte, mir und vermutlich auch anderen. Der deine Begabung entdeckte, ich glaube, ich habe es schon einmal erwähnt, vor, was?, fünfzehn Jahren? Zwanzig? Nein, so viele werden es nicht sein.«
    Ich fand das nicht sehr glaubhaft. Es war möglich, aber wer waren dann das ›du‹ und das ›sie‹, auf das der Bericht anspielte? ›… es

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