Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied
macht fast angst, sich vorzustellen, was er weiß, wieviel er sieht und wieviel er weiß. Über mich, über dich, über sie. Er weiß mehr über uns als wir selbst. Ich meine, über unsere Charaktere. Oder mehr noch, über unsere Formen. Mit einem Wissen, das uns fremd ist …‹ Vielleicht war ›du‹ Cromer-Blake, mein anderer Oxforder Freund aus jener Zeit, auch er war mit Rylands eng befreundet gewesen; und dann mußte ›sie‹ Clare Bayes sein, meine Geliebte aus jungen Jahren, die ich nie wiedergesehen hatte. Doch das hätte auch bedeutet, daß Cromer-Blake ebenfalls zur Gruppe gehört hatte, und das sah ihm überhaupt nicht ähnlich; aber wer weiß, in Oxford läßt sich ja niemand in die Karten sehen … In dieser Sache schenkte ich Wheeler keinen Glauben. Ich kam zu dem Schluß, daß er mir einfach nicht sagen wollte, wer sich da schriftlich über mich geäußert hatte, und es war leicht, einen Toten vorzuschieben. Oder er wollte nicht zugeben, daß er selbst es gewesen war. Seine Schamhaftigkeit blieb immer wachsam, selbst wenn er sie wie an jenem Sonntag ein wenig verlor.
»Was geschah mit Ihrer Frau, was geschah mit Valerie?« Und wieder fühlte ich mich anmaßend, als ich ihren Namen aussprach, so als wäre dies eine Entweihung.
Jetzt führte er sich die Hand, die zuvor an der Wange und am Kinn gelegen hatte, an die Stirn, in der anderen hielt er den Stock, oder besser gesagt, er umklammerte ihn fest. Er kniff die Augen zusammen, wie wir Kurzsichtigen es tun, um etwas von ferne erkennen zu können, und richtete den Blick nicht auf mich, sondern in die Weite, auf irgendeinen Punkt im Garten oder am Fluß draußen vor dem Fenster.
»Wir haben uns verschätzt, oder ich kam nicht einmal darauf, eine Einschätzung vorzunehmen. Wäre die Gruppe früher geschaffen worden, hätte irgendwer einige Monate zuvor diese Idee gehabt (Vivian, Menzies, Cowgill oder Crossman oder vielleicht auch Delmer oder sogar Churchill höchstpersönlich), so hätte man ihr womöglich nicht gestattet, so weit zu gehen. Ich zumindest hätte sie vermutlich nicht gelassen. Die anderen schon: Sie machten vor nichts halt.« Und das sagte er auf spanisch, ›pararse en barras‹ . »Aber ich war während des Kriegs aufgrund meiner ›Spezialaufträge‹ nicht viel hier; ich kam nur hin und wieder für kurze Zeit ins Land, so daß ich es wohl ohnehin nicht hätte verhindern können.« Er hielt inne. Vermutlich ging ihm durch den Sinn, daß er nun schon angefangen hatte. Daß er trotzdem noch abbrechen konnte. Ich glaube, er beschloß, sich das Problem nicht zu stellen und einfach fortzufahren. »Valerie wollte wie fast jeder zu der Zeit mit anpacken, auf irgendeine Weise helfen. Sie sprach, wie gesagt, sehr gut Deutsch, weil sie in ihrer Kindheit und Jugend zahlreiche Sommer bei einer österreichischen Familie verbracht hatte, die mit ihren Eltern durch eine alte Freundschaft verbunden war, und die jüngste Tochter dieses Ehepaars war etwa so alt wie sie; dann gab es noch drei ältere, die Erstgeborene war ihr etwa zehn Jahre voraus. Also fuhr sie im Sommer nach Melk an der Donau, in Niederösterreich, dort gibt es diese berühmte Benediktinerabtei, du weißt schon, das Barockkloster …« Er sah, daß ich nicht reagierte, und fügte wie einen Nebengedanken hinzu: »(Egal, du kennst es nicht) … und das etwa gleich alte Mädchen kam immer an Weihnachten zu ihr nach England. Als der Krieg ausbrach, überlegte Valerie, ob sie sich als Spionin zur Verfügung stellen, sich nach Deutschland schicken lassen sollte. Doch sie wußte, daß sie kein sehr mutiger Mensch war, daß sie leicht eingeknickt und sehr bald enttarnt worden wäre. Sie hatte viel guten Willen und war intelligent, aber für eine derartige Aufgabe fehlte es ihr an Charakterstärke. Ihr fehlten die Selbstsicherheit und die Fähigkeit zur Verstellung, zweifellos die Fähigkeit, andere zu täuschen. Aus ihr wäre nie eine gute Agentin geworden. Im Gegensatz zu dem, was manche glauben, wissen die meisten Menschen nicht, wie das geht, sie sind dazu nicht fähig. Außerdem war sie sehr jung, neunzehn, als der Krieg begann, ich war sieben Jahre älter als sie und jetzt so viele mehr, ich sollte ihnen nicht noch weitere hinzufügen.« Resigniert sah er auf die Hand, als könnte er es daran ablesen, an den Äderchen, den Falten, den Altersflecken. »Sie übernahm daher Übersetzungs- und Dolmetschaufgaben für das Foreign Office, bis dann im August 1941 sämtliche Propaganda, die
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