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Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied

Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied

Titel: Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marias
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angeregt danach, das schon, doch jede Erinnerung bringt weitere mit sich, und früher oder später kommt immer der Moment, in dem man an eine traurige gerät, an einen Verlust, eine Sehnsucht, ein Unglück von der Art, wie man sie nicht erfindet. Dann senkt man den Blick oder er verliert sich im Raum, und man spricht nicht weiter, man verstummt.
    »Ich weiß nicht, wer Sefton Delmer war, Peter«, sagte ich. »Ich weiß auch nicht, was das PWE ist.«
    Er hob den Blick, richtete ihn auf mich, noch immer müde. Auch verwundert. Dann sagte er:
    »Warum haben wir darüber geredet? Ich weiß nicht, wie wir darauf gekommen sind, es ist mir entfallen.« Auch mir war es offen gestanden entfallen. »Warum erzählst du mir denn nichts? Aus irgendeinem Grund wirst du heute gekommen sein, ohne dich vorher anzumelden, nicht wahr? Ich freue mich sehr, dich zu sehen, aber sag, warum bist du heute gekommen?«


    E r hatte recht. Wenige Dinge entgingen Wheeler, auch wenn sein Kopf nicht mehr sein mochte, was er einmal gewesen war, und er weniger auf die äußere Welt achtete und allmählich eine Art geschwätzige Geistesabwesenheit entwickelte (ich vermutete, wenn er alleine war, blieb nur die Geistesabwesenheit). Ja, ich war aus einem bestimmten Grund nach Oxford gefahren, ich war aus einem bestimmten Grund an diesem aus der Unendlichkeit verbannten Sonntag an den Cherwell-Fluß gekommen, dessen ruhiges oder mattes Rauschen von unserem Standort aus zwar nur schwach, aber doch deutlich zu hören war, ich erinnerte mich daran, was mein Denken ihm zugeschrieben hatte, als es zu später Stunde endlich zur Ruhe gekommen war, in der Nacht, in der ich dort im Verlauf eines kalten Abendessens Tupra kennengelernt hatte: ›Ich bin der Fluß, ich bin der Fluß und daher ein Verbindungsfaden zwischen Lebenden und Toten, genau wie die Erzählungen, die nachts zu uns sprechen, ich gleiche den Zeiten und auch den Ereignissen, ich bin der Fluß. Aber der Fluß ist der Fluß. Und weiter nichts.‹ Ich war hierhergekommen, um Wheeler zu erzählen, was mir passiert war oder besser, was ich getan hatte – eigentlich war mir nichts passiert: In Wahrheit hatten andere das Nachsehen gehabt –, und um ihn zu fragen, ob er etwas derartiges vielleicht hätte voraussehen können, als er mich in die Gruppe einführte, der er einst angehört hatte. Oder bis zu welchem Punkt ihm bewußt gewesen sei, in was er mich mit seiner Vermittlungstätigkeit hineingezogen und welchen Risiken er mich ausgesetzt habe. Er mußte um die Folgen gewußt haben, die unsere Berichte haben konnten, und um den Gebrauch, der zuweilen von ihnen gemacht wurde, ein unmittelbarer und praktischer, in meinem Fall krimineller und mitleidloser Gebrauch. Wenn das Ergebnis in Zeiten relativen Friedens ein Mord und eine skandalträchtige Verhaftung waren, der Tod eines unschuldigen Menschen und der Ruin eines anderen, zur Schuld verführten Mannes, so mußte die Interpretation von Menschen oder die Übersetzung von Leben oder die Vorwegnahme von Geschichten während des Krieges, als die Gruppe geschaffen wurde und es vermutlich nicht viel Spielraum für Überprüfungen gab und schnelle Entscheidungen getroffen werden mußten, die Vernichtung von Menschen und Katastrophen und Verhängnisse nach sich gezogen haben. Auch wenn sie außerdem dazu beigetragen hatten, all das zu verhindern, daran hegte ich keinen Zweifel. Vielleicht hatte Wheeler sich damals in einer ähnlichen Lage befunden wie ich jetzt, und er war kein rücksichtsloser Mensch, mochte er auch zu seiner Zeit Cholera-, Malaria- und Pesterreger ausgestreut haben, das war nicht der, den ich kannte. Vielleicht war durch seine Worte nicht nur einer, sondern waren viele gestorben, und womöglich nicht diejenigen, die es hatte treffen sollen. Doch wenn ihm dies widerfahren war, so mußte er immer den Trost, die Rechtfertigung, die Ausflucht gehabt haben, im Krieg zu sein. Ich hatte sie nicht.
    »Ja, ich bin aus einem bestimmten Grund gekommen, Peter«, gestand ich. Und ich erzählte ihm die Vorgeschichte und erklärte ihm, was vorgefallen war, so wie ich es am Vorabend gegenüber Pérez Nuix getan hatte.
    Wheeler hörte mir schweigend zu, ohne mich auch nur ein einziges Mal zu unterbrechen, den Stock nun in senkrechter Position auf den Boden gestützt und eine Hand an der Wange, ein Ausdruck aufmerksamen Zuhörens. Ich erzählte ihm von dem ersten Abendessen mit Dearlove und von dem zweiten Treffen in Edinburgh, so konnte außerdem

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