Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied
niemand bewußt rechnet, obwohl sie de facto existiert, ohne genannt zu werden, und unbeachtet über den Beziehungen zwischen den Männern und zwischen den Frauen und zwischen Männern und Frauen schwebt. Besagte mittelalterliche Sprache wird von niemandem mehr gesprochen und kaum noch verstanden. Aber wenn man die Sache recht betrachtet, gibt es noch etwas, das in manchen Fällen durch die Mittelsperson weitergegeben wird, von demjenigen, der vorher mit ihr zusammen war, zu demjenigen, der es danach war, etwas, das weder greifbar noch sichtbar ist: der Einfluß. Ich hatte an jenem Abend im Lauf des Gesprächs mit der jungen Pérez Nuix bisweilen den Eindruck, sie mit Tupras Zunge reden zu hören, aber das konnte auch auf die zahlreichen Jahre ihrer gemeinsamen Arbeit und ihres ständigen Kontaktes zurückzuführen sein, nicht zwangsläufig auf ihr einstiges Liebesverhältnis. Allerdings wissen wir niemals, von wem ursprünglich die Ideen und Überzeugungen stammen, die uns mit der Zeit Gestalt geben, die Nährboden in uns finden und die wir als Richtschnur übernehmen, an denen wir festhalten, ohne es uns vorzunehmen, die wir uns zu eigen machen. Von einem Urgroßvater, einem Großvater, einem Vater, nicht unbedingt von den eigenen? Von einem fernen Lehrer, dem wir nie zugehört haben, der jedoch denjenigen erzogen hat, den wir hatten? Von einer Mutter, von einem Kindermädchen, das sich um sie kümmerte, als sie selbst ein Kind war? Vom Ex-Mann unserer Liebe, von einem ›Gebrydguma‹, den wir nie gesehen haben? Von einigen Büchern, die wir nicht gelesen haben, und von einer Zeit, die wir nicht erlebt haben? Ja, es ist unglaublich, was die Leute alles reden, was sie sagen und erzählen und schriftlich hinterlassen, dies ist eine ermüdende Welt, in der unaufhörlich übertragen wird, und so ist das Werk bei unserer Geburt weit fortgeschritten, aber wir sind dazu verurteilt, daß niemals etwas ganz vollendet wird, und tragen – sie hallen in unseren Köpfen wider, ununterscheidbar – die erschöpfenden Stimmen der unzählbaren Jahrhunderte in uns und hängen doch dem illusorischen Glauben an, daß einige Gedanken und Geschichten neu sind, nie gehört und nie gelesen, wie könnte das sein, wenn die Leute nicht aufgehört haben, zwanghaft zu erzählen, seit sie die Sprache besitzen, und alles früher oder später von sich geben, das Interessante und das Flüchtige, das Private und das Öffentliche, das Intime und das Überflüssige, was verborgen bleiben sollte und was verbreitet werden muß, den Schmerz und die Freuden und das Ressentiment, die Gewißheiten und die Vermutungen, das Vorgestellte und das Geschehene, die Überzeugungen und den Verdacht, die Kränkungen und die Anbetung und die Rachepläne, die Heldentaten und die Demütigungen, was uns stolz macht und wofür wir uns schämen, was ein Geheimnis schien und was darum bat, eines zu sein, das Bekannte und das Unaussprechliche und das Furchtbare und das Augenscheinliche, das Wesentliche – die Verliebtheit – und das Unwesentliche – die Verliebtheit. Ohne es sich zweimal zu überlegen, gehen sie hin und erzählen es.
»Mir wäre das auch nicht eingefallen, Mensch, wenn ich hätte wählen können«, antwortete ich Tupra, als wir aufhörten, gemeinsam uneigennützig, gegen meinen Willen, über die › bulwarks ‹ oder Bollwerke zu lachen, gegen die er mich geworfen hatte. »Aber du hast mich gezwungen, wie zu allem anderen heute Abend, einschließlich der Tatsache, daß ich noch immer hier bin in aller Herrgottsfrühe.« Na ja, › at an unearthly hour ‹ sagte ich tatsächlich, in meinem bisweilen literarischen Englisch; wörtlich ›zu einer nicht irdischen Stunde‹. »Ich weiß nicht, ob dir das klar ist, aber seit fast einem Tag erteilst du mir nur Befehle, die meisten außerhalb der Arbeitszeit. Es wird Zeit, daß ich gehe. Ich möchte schlafen, ich bin müde.« Und ich ging erneut vom trügerischen, kurzen Lachen zum dauerhafteren Ernst über, wenn nicht zur Verärgerung. Und ich machte eine Geste, als dächte ich daran, aufzustehen, nur ein Gedanke, denn er würde es mir noch nicht erlauben: Er wollte mir von Konstantinopel und Tanger in früheren Jahrhunderten erzählen, immer noch mehr erschöpfende Stimmen und Geschichten, die wir nicht kennen. Aber er tat es immer noch nicht und würde es wohl auch nicht mehr tun, solche Dinge kündigt man an und kommt später nicht mehr darauf zurück, sie werden ausgestreut und dann liegengelassen , wie
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