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Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied

Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied

Titel: Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marias
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verbale Köder; und er hatte die Absicht, mir seine privaten Videobänder zu zeigen, oder wahrscheinlich DVD s. Auch das ließ auf sich warten. »Wenn du mir jetzt nicht rasch von Tanger und Konstantinopel erzählst, dann hau ich ab, Bertram. Ich habe es satt, ich falle um vor Müdigkeit. Und mir ist nicht danach, weiter zu reden.«
    Tupra gab eine Art leises Knurren von sich, ein unentschlossener Laut zwischen trockenem Lachen und erstickter Verachtung. Er erhob sich und sagte:
    »Jetzt werd nicht ungeduldig, Jack, Eile ist hier nicht angebracht. Ich werde dir die Videos zeigen, von denen ich dir erzählt habe, du wirst aus ihnen lernen, und es wird gut für dich sein, sie zu sehen. Nicht sofort, sie sind nicht angenehm, und es ist sehr gut möglich, daß deine Müdigkeit verfliegt, daß sie dir in den nächsten Stunden den Schlaf rauben, ich habe dir schon die Erlaubnis gegeben, morgen nicht zur Arbeit zu kommen, oder besser heute, verlieren wir also keine Zeit.« Er sah sehr rasch auf die Uhr, ich auch: Für London war die Stunde nicht irdisch, für Madrid wohl. Die Kinder schliefen sicher schon, doch wer weiß, was Luisa machte, sie konnte noch wach sein, mit wem, fragte sich, vielleicht mit niemandem. »Aber später wird es gut für dich sein, daß du sie gesehen hast. In ein paar Tagen, und sie werden dir für immer nützen. Vielleicht hörst du dann auf, Dingen eine Bedeutung zu geben, die keine haben, das ist das erste, was man jedem beibringen sollte, aber niemand kümmert sich darum, im Gegenteil: Man erzieht so, daß jeder Idiot aus jedem Blödsinn ein Drama macht. Man erzieht zum Leiden ohne wahren Grund, und wenn man alles zur Quelle von Leid macht, ist nichts gewonnen, oder wenn man sich quält. Das lähmt, das betäubt, das hindert daran, sich zu bewegen. Aber du siehst ja, die Leute schlagen sich heute schon an die Brust, wenn man einer Pflanze etwas zuleide tut, ganz zu schweigen von einem Tier, o, was für ein Verbrechen, was für ein Skandal. Sie leben in einer irrealen, prekären, verlogenen, verweichlichten Welt.« ›Verkitscht‹, dachte ich, dem Englischen fehlt dieses so nützliche, so weitgefaßte Wort.‹ »Der Geist, ständig in Watte gepackt.« Und er knurrte wieder ein wenig, es klang dieses Mal wie ein sarkastisches Hüsteln. »Das gilt für unsere Länder. Und wenn dort einbricht, was anderswo normal, was gängige Münze ist, sind wir wehrlos und ohne Reflexe, leichte Beute, und erst nach einer Weile reagieren wir, und dann tun wir es maßlos und blind und irren uns im Ziel. Mit allzu großer rückwirkender Angst, wie bei den Attentaten hier und in deiner Stadt, von denen in New York und Washington ganz zu schweigen.«
    »In Madrid hat sich nichts groß geändert«, sagte ich. »Es ist schon wieder, als wären sie nie geschehen.«
    Aber er beachtete mich nicht, er war in Gedanken. Seine tiefe Stimme hatte etwas Betrübliches bekommen. Fast immer lag etwas davon in ihrer Tönung, die an ein Streichinstrument erinnerte, als ginge sie aus der Bewegung des Bogens auf dem Cello hervor. Doch bisweilen verstärkte sich diese Eigenschaft und erzeugte beim Hörer ein sanftes, fast angenehmes, schwächendes Gefühl von Betrübnis; bei mir zumindest war das so.
    »Nicht, daß man keine Angst haben sollte, versteh mich recht. Im Gegenteil, wir hätten sie schon vorher haben müssen, hätten mit ihr rechnen müssen wie mit der Luft, aber wir hätten sie auch einflößen müssen. Sie einflößen und sie haben, das ist der unveränderliche Stil der Welt, den wir vergessen haben. In anderen, wachsamer gewordenen Regionen ist das etwas ganz Natürliches. Aber hier merkt keiner etwas, und wir schlafen, ohne ein Auge offenzuhalten, alles trifft uns aus heiterem Himmel, und dann können wir es nicht fassen. Rückwirkende Angst nützt nichts, noch weniger als die vorweggenommene. Nicht, daß die viel nützen würde, aber zumindest versetzt sie einen in einen Zustand der Erwartung, wenn schon nicht in einen der Wachsamkeit. Es ist immer besser, sie einzuflößen. Komm, fangen wir an, ich werde dir diese Szenen zeigen, sie sind nicht lang. Einige werde ich dir im Schnelldurchlauf vorspielen.«
    Er schenkte mir von seinem Karaffen-Porto ein, ohne mich zu fragen – vielleicht dachte er, ich würde ihn benötigen, um mich dem nicht angenehmen Lehrstoff zu stellen –, er nahm sein Glas und ich auf sein Bitten hin das meine – er machte eine zweifache Geste mit dem Kopf und einem Finger –, und dann führte

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