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Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied

Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied

Titel: Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marias
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Erstaunen hervorzurufen. Denn das kann jeder, jemanden umbringen, das kann noch der größte Dummkopf. Und sie wissen nicht, daß sie nur weiterzuleben und abzuwarten bräuchten, bis irgendjemand den Reiz daran erkennt und die passende Perspektive findet und daraufhin beschließt, es zu erzählen oder zumindest sich zu interessieren und ihnen Beachtung zu schenken. Bis jemand in ihrem Leben etwas Beschämendes oder zu Verheimlichendes, ein Gebrechen oder eine Anomalie sieht. Und das ist im Grunde nicht so schwierig, Jack, denn wir alle tragen dergleichen in uns, bisweilen ohne es überhaupt zu wissen. Wir hängen von dem ab, der uns anschaut. Und das Schlimmste, was den Leuten passieren kann, ist, daß sie niemand anschaut. Die Leute ertragen das nicht und verkümmern deshalb. Es gibt Leute, die daran sterben oder die deshalb töten.«
    Und ich hatte Zeit zu denken: ›Tupra hat sich meine Theorie zu eigen gemacht oder Teile davon. Er ist so taktvoll, nicht genau meine Worte zu benutzen oder es in Ausnahmefällen anzuerkennen, ›wie du das bezeichnet hast‹, ›wie du das nennst‹, sagt er mich zitierend, wenn er mich wortwörtlich zitiert. Er ist so geschmackvoll, sich zumindest in meiner Gegenwart die Idee nicht anzueignen, daß die Leute es hassen, übergangen oder nicht beachtet zu werden und es immer vorziehen, gesehen und beurteilt zu werden, im Guten oder im Bösen oder sogar im Schlimmsten, ja sie brauchen es und sehnen es herbei; daß sie noch nicht auf das vermeintliche Auge Gottes haben verzichten können, das uns so viele Jahrhunderte lang beobachtet und überwacht hat, auf das Begleitetsein, das mit dem Gedanken verbunden ist, daß irgendein Wesen sich in jedem Augenblick um uns kümmere und alles über uns wisse und unseren Lebensweg bis ins Detail verfolge wie jemand, der einer Erzählung folgt, deren Hauptperson wir sind; daß sie es schlecht vertragen oder nicht zulassen, von niemandem betrachtet und weder gebilligt noch mißbilligt, weder belohnt noch bestraft noch bedroht zu werden, über keinen Zuschauer oder Zeugen zu ihren Gunsten oder Ungunsten zu verfügen; und so suchen sie oder erfinden sie sich einen Ersatz für dieses Auge, das sich längst geschlossen hat oder verletzt oder müde oder leblos oder gelangweilt oder blind ist oder das, wie ich jetzt, den Blick abgewendet hat; vielleicht macht es den Leuten heutzutage deshalb so wenig aus, ausspioniert und gefilmt zu werden, und sie tendieren sogar häufig dazu, dies in exhibitionistischer Weise zu begünstigen, obwohl es ihnen schaden und genau das bewirken kann, was sie so erschreckt, die Verwandlung ihrer Geschichte in ein Fiasko. Es ist wie ein widersprüchliches doppeltes Bedürfnis: Ich will, daß man weiß, daß ich bin und daß ich gewesen bin und daß meine Taten bekannt werden, was mir zugleich Angst bereitet, denn es kann das Bild, das ich von mir zeichne, für immer ruinieren. Tupra wird sich also sicher, sobald ich nicht dabei bin, bedenkenlos alles aneignen, alles, was ich ihm über Dick Dearlove gesagt habe und was mir andere Male eingefallen ist, und glauben, es sei auf seinem Mist gewachsen (und darin wird er sich nicht von einem gewöhnlichen Chef unterscheiden). Vielleicht hat Pérez Nuix recht, und ich beeinflusse ihn sehr viel mehr als ich glaube, rege ihn an und amüsiere ihn. Vielleicht empfindet er deshalb eine gewisse Schwäche für mich und lädt mich zu sich nach Hause ein oder schleppt mich hierher und zeigt mir diese Sammlung schrecklicher Videos und hat soviel Geduld mit mir und läßt mir soviel durchgehen, sogar daß ich mir die Augen zuhalte und den Blick von dem abwende, was er mir großzügig zeigt, in einem Akt großen Vertrauens, oder nur mit einem Auge hinsehe.‹


    U nd ich dachte auch sofort: ›Doch alles geht zu Ende, und Schecks werden eingelöst, bis man in die roten Zahlen kommt, und ich darf mich darauf nicht allzusehr verlassen.‹ Und dann sagte ich:
    »Also gut, zeig mir, was du mir zeigen mußt, kommen wir zum Schluß. Es ist schon sehr spät, und ich will nach Hause.«
    »Ach ja, das stimmt«, antwortete er ironisch. »Dein brennendes Licht. Glaubst du, daß sie noch auf dich wartet? Wenn dem so ist, dann wirst du es nicht leicht haben, sie loszuwerden, bei ihrer Hartnäckigkeit.« Er blickte auf die Uhr und fügte hinzu: »Da hast du sie aber ganz schön versetzt. Richtest du ihr von mir aus, daß ich es sehr bedaure?«
    Er war der Typ Mann, den es erregte, an Frauen zu denken, an

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