Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied
eingeschleusten und bestochenen Leuten, die filmen. Aber es werden auch Bilder verkauft, es gibt einen richtig florierenden Markt, und wir kaufen, was uns interessiert, sie kommen uns billig, wenn der Anbieter die Identität der darauf Abgebildeten nicht kennt. Wir dagegen wissen gewöhnlich davon oder können herausfinden, ob es sich um bloße Befehlsempfänger oder um obskure Auftragskiller oder aber um Leute von einer gewissen Bedeutung handelt. Es ist wie in der Kunst: Wenn der Käufer den Wert kennt und der Verkäufer nicht, dann ist das Ergebnis ein Schnäppchen. Heutzutage besitzt jeder Schwachkopf eine Minikamera, die er in der Tasche mit sich herumträgt oder als Funktion seines Handys, und wenn ein Tourist zufällig etwas Gravierendes mitbekommt, womöglich ein Verbrechen, ist es wahrscheinlicher, daß er versucht, Geld damit zu machen, als daß er die Polizei informiert. Die zahlt nicht, wir dagegen sehr wohl und andere auch, über Mittelsmänner. Genau wie wenn irgendeine berühmte Person beim Vögeln oder nackt erwischt wird, dann wirft man sie auf den Markt der sensationsgeilen Zeitschriften und Fernsehsender, es bietet sich an, jemanden zu haben, der ein Auge darauf hat. Andere Male schicken uns unsere Kollegen aus anderen Ländern Videos, und wir zeigen uns mit dem erkenntlich, was ihnen nützlich sein kann, auch die Satelliten schneiden so einiges mit. Jetzt ist es das Einfachste der Welt, daß Aufnahmen von allem Möglichen auftauchen. Die Leute haben keinen Überblick mehr, wo es überall Kameras gibt, oder glauben noch immer nicht, daß es so viele sind, am vernünftigsten ist, davon auszugehen, daß es sie an jedem Ort und zu jeder Zeit gibt, selbst in Hotelzimmern und in Bordellen und in Saunen und auf öffentlichen Toiletten (übrigens nicht auf der Behindertentoilette, dort werden gewöhnlich keine angebracht) und sogar in Privathäusern. Heute ist niemand davor geschützt, in jeder Haltung und jeder Situation gefilmt zu werden, also mitten beim Begehen einer Straftat oder bei perversen sexuellen Praktiken, das ist immer möglich. Obwohl wir natürlich so großes Glück nicht haben, insgesamt ist es nur ein geringer Teil, der in unsere Hände gelangt und den wir sehen. Unmittelbaren Gebrauch können wir davon sehr wenig machen, ich meine, legalen Gebrauch. Aber unsere Archive für die Zukunft oder für alle Fälle sind nicht schlecht, wenn man an private Vereinbarungen denkt. Den Leuten ist ihr Image überaus wichtig, und sie sind zu Verzicht und zum Paktieren bereit. Es würde dich überraschen, wie wichtig es ihnen ist, auch wenn sie nicht berühmt sind, auch wenn sie für die meisten Leute anonyme Unternehmer sind, zum Beispiel für diejenigen, die fernsehen und Zeitung lesen, sie wissen, daß sie sofort aufhören würden, anonym zu sein. Diese panische Angst, die erzählerische Panik oder der Abscheu, wie du das bezeichnet hast, die sind weit verbreitet, alle sind überzeugt davon, daß sie eine Geschichte haben können oder ihren möglichen Stoff darstellen, es genügt, daß jemand sie erzählt, daß jemand beschließt, sie zu erzählen. Und tatsächlich ist nichts so einfach, wie einen Menschen der Anonymität zu entreißen. Viele Leute kämpfen und tun alles, um selbst daraus hervorzutreten, du weißt ja, sie bieten ihren Alltag im Internet dar, rund um die Uhr, sie inszenieren Skandale oder spektakuläre Betrügereien, sie versuchen, eine Berühmtheit flachzulegen, auch wenn es die häßlichste ist, sie erfinden abwegige Gerüchte, damit man sie einlädt, sie in der armseligsten und verstecktesten Morgensendung zum Besten zu geben, sie suchen durch indirekte Ansteckung an fremdem Ruhm zu partizipieren, und wenn er mit einem noch so verheerenden Ruf einhergeht, oder sie streiten sich im Fernsehstudio und beschimpfen sich gegenseitig und versuchen, an dämliche, gehaltlose Fotos an der Seite eines Schauspielers, eines Fußballers, eines Sängers, eines Millionärs, eines Politikers, eines Angehörigen des Königshauses, eines Models zu kommen. Sie töten sogar einen Bekannten oder Unbekannten auf schaurige oder abstruse, besonders grausame oder spektakuläre oder schaudererregende Weise, der Junge bringt ein kleines Kind um, der Jugendliche seine Eltern, die Halbwüchsige eine schwächere Freundin, der Erwachsene veranstaltet ein Massaker an einem öffentlichen Ort oder befördert insgeheim sieben ins Jenseits, einen nach dem anderen, in der Erwartung, endlich entdeckt zu werden und
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