Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied
zu ärgern, solltest du dich bedanken, daß ich seine Bestrafung übernommen habe, um bei deinem Ausdruck zu bleiben. Er wäre nicht ohne gegangen, so viel ist sicher.«
Ich wußte schon seit einer Weile, worauf er hinauswollte, ›Es war notwendig, und ich habe damit Schlimmeres verhütet, oder das glaubte ich; ich habe einen umgebracht, damit nicht zehn umgebracht wurden, zehn, damit nicht hundert fielen, hundert, um tausend zu retten‹, und so endlos weiter, die alte Entschuldigung, die vermutlich so viele seit Jahrhunderten in ihren christlichen und nicht christlichen Gräbern vorbereiteten und ausarbeiteten, in Erwartung des Jüngsten Gerichts, das nicht kam, wie viele glaubten noch an dieses Gericht zur Stunde ihres Weggangs, fast alle Mörder der langen Geschichte und die Anstifter. Doch ich wollte ihm jetzt keine Vorwürfe machen, sondern die Fassung bewahren, ich war nicht gefaßt, was hätte ich nicht dafür gegeben, mich gleichgültig zeigen zu können. Ich probierte es mit einer richtigen Frage, das heißt mit einer, die ich ihm in jedem Fall hätte stellen wollen, auch wenn ich gelassen gewesen wäre.
»Wenn er vermutet, daß du etwas hast, und außerdem nichts Geringeres als das, wieso habe ich dich dann den ganzen Abend so vorsichtig erlebt? Es war, als wärst du es, der ihm gefallen müßte, und nicht etwas von ihm fordern. Nach dem, was du mir erklärt hast, dienen diese Aufnahmen euch vor allem dazu, problem- und widerstandslos Zugeständnisse zu erlangen und Erpressungen vorzunehmen, aber ich hatte den Eindruck, daß es dir nicht leicht fiel, ihn von was auch immer zu überzeugen oder aus ihm herauszuholen, worum es dir ging.«
Tupra betrachtete mich leicht amüsiert und leicht gereizt. Ich hatte mich noch nicht von dem pouf fortbewegt, und so sah er von oben auf mich herunter.
»Und wer sagt dir, daß er nicht eine andere Aufnahme von uns besitzt? Der Vorteil kann in diesen Fällen verlorengehen, aufgehoben werden.« Er sagte ›von uns‹, nicht ›von mir‹, ich dachte, sie könnte von Rendel oder Mulryan sein, obwohl ich letzteren als sehr vorsichtig empfand, ich war unfähig mir vorzustellen, daß Pérez Nuix sich verhalten könnte wie Manoia in jenem Stall. Oder von Tupra natürlich oder von jemandem über ihnen allen oder uns allen, auch ich war bereits ›wir‹. Oder ein kompromittierendes Video anderer Art, nicht gleichwertig, nicht vergleichbar, nicht so grausam, hoffentlich nicht. Was ich auf dem aus Sizilien gesehen hatte, war abstoßend, auch auf denen aus Ciudad Juárez und anderen Orten, ich würde es unmöglich vergessen, oder, was wünschenswerter gewesen wäre, auslöschen können: als hätte es niemals existiert noch seinen Fuß auf die Erde gesetzt oder die Welt durchschritten und als wäre es auch nicht vor meinen Augen vorübergezogen.
»Das war in Sizilien, oder?« fragte ich ihn daraufhin; ich sprach in einem sachlichen Ton, dem Ton, der am hilfreichsten ist, wenn man kurz davorsteht, zusammenzubrechen.
»Sehr gut, Jack, du wirst immer besser«, antwortete er und tat, als wollte er mir applaudieren, er konnte nicht mit der DVD zwischen den Fingern der einen Hand und der Zigarette zwischen denen der anderen. »Was hat dich darauf gebracht, das Lied, die Sprache oder beides?«
»Alle drei. Auch der Typ mit der lupara . Das war nicht besonders schwer.« Ich nahm an, daß er den Begriff kannte, auch wenn er kein Italienisch konnte. Ich täuschte mich, das wunderte mich.
»Der was?«
»Der lupara .« Und ich buchstabierte ihm das Wort auf englisch. »So nennen sie dort die zweiläufige Flinte.«
»Na, du weißt ja Sachen.« Vielleicht ärgerte es ihn tatsächlich, daß es mir gelang, nach außen hin die Fassung zu wahren; nachdem ich mir so lange das Gesicht verdeckt hatte, mußte er sicher gewesen sein, daß ich völlig zusammenbrechen würde, wenn ich sah, wie der Mann, mit dem ich zu Abend gegessen und in einer Bar getrunken, dem ich die Hand geschüttelt und mit dessen Frau ich getanzt hatte, jemandem die Augen ausstach. Und natürlich war ich fix und fertig, in mir zitterte es, und ich wollte endlich abhauen, aber das sollte Tupra nicht zu sehen bekommen, in jener Nacht hatte er mich schon genug gequält, und ich war nicht bereit, ihm auch noch diese Genugtuung zu gönnen. Flavia hatte bestimmt keine Ahnung von dem grausamen Zug ihres Ehemanns, es ist erstaunlich, wie wir die am meisten geliebten Gesichter weder heute noch gestern kennen, und von morgen wollen
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