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Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied

Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied

Titel: Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marias
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Gesicht.« Aber sofort hakte er nach: »Sag mir, warum man nicht kann.«
    Ich wußte nicht, was ich antworten sollte, ich war noch immer ziemlich mitgenommen, ich war noch immer bestürzt und erschüttert. Aber dann entschlüpfte mir doch ein Satz, fast ungewollt, jedenfalls ohne nachgedacht zu haben, als wollte ich schlichtweg nicht stumm bleiben:
    »Weil so niemand leben könnte.«
    Ich konnte seine Wirkung nicht feststellen, auch nicht, ob es eine gab, ich erfuhr nicht, ob Tupra gelacht hätte oder nicht, ob er gespottet hätte, ob er ihn widerlegt hätte oder ob er ihn voll Verachtung fallengelassen hätte, ohne ihn überhaupt aufzunehmen, denn ich hatte den Satz kaum ausgesprochen, da hörte ich in meinem Rücken eine Frauenstimme:
    »Bertie, wen hast du denn da mitgebracht, was machst du überhaupt, du läßt mich nicht schlafen, weißt du, wie spät es ist, kommst du nicht ins Bett?«
    Es war ein häuslicher Ton. Ich wandte mich um. Die Frau hatte das Licht im Flur angemacht, und ihre dunkle Gestalt zeichnete sich auf der Schwelle im Gegenlicht ab, sie hatte die Tür geöffnet, und man konnte ihr Gesicht nicht sehen. Sie trug einen durchsichtigen, bis zu den Füßen reichenden Hausmantel aus Gaze oder etwas Ähnlichem, mit Gürtel oder eng in der Taille, und der Rest war leichte Weite, das war der Eindruck, ihr Umriß erschien deutlich und gleichsam nackt durch die Gaze, obwohl sie es möglicherweise nicht war, wenn sie meine Stimme oder Stimmen gehört hatte; sie trug Pantoffeln mit hohem, dünnem Absatz, als wäre sie ein antiquiertes Model für Unterwäsche oder für Nachthemden und Schlafanzüge, ein pin-up girl der fünfziger oder frühen sechziger Jahre, eine Frau aus meiner Kindheit. Sie wirkte wie ein Kalenderbild. Sie roch gut, es war ein sexueller Geruch, der von der Tür her ins Zimmer drang und die Illusion schuf, er könne dessen Schrecken auflösen. Sie hatte nicht die Figur eines Stundenglases oder einer Coca-Cola-Flasche, aber beinahe, sie hob sich perfekt und attraktiv gegen das starke Licht hinter ihr ab; sie war groß und hatte lange Beine, eine Schlittenbahn, die man hinuntergleiten konnte, also war es möglich, daß es seine Ex-Frau Beryl war, die De la Garza so entflammt und erregt hatte. Ich dachte an ihn, vielleicht lag er noch immer auf dem Boden der Behindertentoilette, der nicht mehr so sauber war, verletzt und ohne sich bewegen zu können. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, aber ich würde nicht derjenige sein, der in jener Nacht nach ihm sehen und sich von seinem Zustand überzeugen würde, ich war aufgewühlt und erschöpft. Ich würde mich an einem anderen Tag in der Botschaft nach ihm erkundigen, sicher würde ihn früher oder später jemand finden und einen Krankenwagen rufen. Die Manoias dagegen schliefen wohl schon seit einer Weile in ihren Betten im Hotel Ritz, friedlich und versöhnt, Flavia war gewiß befriedigt und zufrieden, einen nächtlichen Triumph errungen und einen Vorfall provoziert zu haben, obwohl sie sich vermutlich auch gefragt hatte, als sie die Augen schloß: ›Heute abend noch, ja, aber morgen? Dann bin ich einen Tag älter.‹ Wer auch immer die Frau auf der Schwelle war, ihr Erscheinen zwang mich, zu gehen, oder erlaubte es mir endlich. Mir schien nicht, als sei Tupra dazu aufgelegt, sie mir vorzustellen.
    »Ein bißchen späte Arbeit mit einem Kollegen. Ich komme gleich, Liebling«, sagte er zu ihr über den Tisch hinweg. Genau genommen nannte er sie › my dear ‹, ›mein Liebling‹.
    ›Auf ihn hat also wirklich jemand gewartet, und er lebt nicht allein, oder zumindest fehlt es ihm in manchen Nächten nicht an geliebter Gesellschaft‹, dachte ich, während ich aufstand. ›Er hat also eine Schwachstelle, jemanden an seiner Seite. Und ihm gefällt der alte Stil, der nicht gerade das ist, was er den »Stil der Welt« nennt. Vielleicht war dieser auf dem Bildschirm zu sehen und in der Behindertentoilette, und mit ihm hat er mich gerade vergiftet.‹

VI SCHATTEN


    I ch beeilte mich nicht, I did linger and delay oder ich wartete doch und hielt mich auf und ließ etwa zwei Monate vergehen, bis jenes ›andermal‹ kam, da ich beschloß, mich in der Botschaft persönlich nach De la Garza zu erkundigen. Nicht, daß ich mir keine Sorgen um sein Geschick gemacht hätte, ich dachte oft mit Unruhe und Kummer daran, und an den Tagen, die auf jene unangenehme, lange Nacht gefolgt waren, las ich aufmerksam die Londoner Zeitungen, um zu sehen, ob sie eine

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