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Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze

Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze

Titel: Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marías
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Rum auf, total verrückt, dieser Typ, wie glücklich er wirkt, wie losgelöst von allem, was uns verschleißt und verbraucht, seinen Tänzen hingegeben, die für niemanden bestimmt sind, er wäre perplex, wenn er wüßte, daß ich ihn bisweilen beobachte, wenn ich warte oder müßig bin, und es kann sein, daß ich nicht der einzige in meinem Gebäude bin, es ist amüsant und macht sogar fröhlich, ihm zuzusehen, es ist auch mysteriös, ich vermag mir nicht vorzustellen, wer er ist oder was er tut, er entzieht sich – und das geschieht nicht häufig – meinen interpretatorischen oder deduktorischen Fähigkeiten, die treffen oder irren, aber nie blockiert sind, sondern sich sogleich in Gang setzen, um ein improvisiertes, minimales Bild zu verfertigen, ein Stereotyp, eine blitzhafte Eingebung, eine plausible Vermutung, eine Skizze oder ein Fragment des Lebens, wie imaginär und elementar oder willkürlich auch immer, es ist mein detektivischer, wacher Geist, mein stupider Geist, den Clare Bayes mir in diesem selben Land vor nun schon so vielen Jahren unermüdlich ankreidete und vorwarf, bevor ich Luisa kennenlernte, und den ich bei Luisa unterdrücken mußte, um sie nicht zu irritieren und ihr keine Angst zu machen, abergläubische Angst, die am meisten schadet, und trotzdem nützte es wenig, nichts nützt gegen das, was man schon weiß und am meisten fürchtet (vielleicht weil man es dann zwangsläufig anzieht und befördert, denn sonst ist es ein Reinfall), man weiß gewöhnlich, wie die Dinge enden, wie sie sich entwickeln und was uns erwartet, welche Richtung sie nehmen und worauf sie hinauslaufen; alles ist erkennbar, in Wirklichkeit ist alles sehr rasch sichtbar in den Beziehungen wie in den ehrlichen Erzählungen, man muß sich nur trauen, es anzuschauen, ein einziger Augenblick schließt den Keim vieler künftiger Jahre und fast unserer ganzen Geschichte in sich – ein einziger gewichtiger oder gravierender Augenblick –, und wenn wir wollen, sehen wir diese Geschichte und können sie schon in groben Zügen abschreiten, die möglichen Varianten sind nicht so viele, die Anzeichen täuschen selten, wenn wir imstande sind, die bedeutsamen zu erkennen, wenn man – aber das ist so schwierig und verhängnisvoll – bereit dazu ist; man sieht eines Tages eine unverwechselbare Geste, erlebt eine eindeutige Reaktion, hört einen Ton in der Stimme, der viel sagt und noch mehr ankündigt, aber man hört auch, wie auf die Zunge gebissen wird – zu spät –; man spürt im Nacken das Wesen oder die Art eines Blickes, wenn dieser sich unsichtbar und geschützt und sicher fühlt, so viele sind unfreiwillig; man spürt die Honigsüße oder die Ungeduld, erkennt die verborgenen Absichten, die niemals ganz verborgen sind, oder die unbewußten, bevor sie zu Bewußtsein werden bei dem, der sie wird hegen müssen, zuweilen sieht man jemanden voraus, bevor dieser Jemand sich selbst voraussieht oder sich kennt oder auch nur erahnt, und errät den noch nicht angezettelten Verrat und die noch nicht empfundene Verachtung; und die Befangenheit, die man verursacht, den Überdruß, den man bewirkt, oder die Abneigung, die man schon einflößt, oder aber das Gegenteil, was nicht immer besser ist: die Unbedingtheit, mit der man uns begegnet, die zu große Erwartung, die Hingabe, die Sucht, dem anderen zu gefallen und lebenswichtig für uns zu sein, um uns dann zu ersetzen und auf diese Weise der zu sein, der wir sind; und die Besitzgier, die Illusion, die man schafft, die Entschlossenheit, an unserer Seite zu sein oder zu bleiben oder uns zu erobern, und die irrationale, unsinnige Treue; man merkt, wenn Begeisterung da ist und wenn es nur Schmeichelei ist und wenn es sich vermischt (denn nichts ist rein), man weiß, wer nicht ganz sauber ist und wer ehrgeizig und wer keine Skrupel hat und wer über unsere Leiche geht, nachdem er uns zu Boden getreten hat, und wer eine unschuldige Seele ist, und man weiß, was aus diesen wird, wenn man ihnen begegnet, das Schicksal, das sie erwartet, wenn sie sich nicht ändern und verderben, und auch, wenn sie es tun: man weiß, ob man sie zu seinen Opfern machen wird. Man sieht, wer eines Tages wen verlassen wird, wenn einem ein Ehepaar oder ein Paar vorgestellt wird, und man sieht es sofort, kaum daß man sie begrüßt hat, oder begreift es im nachhinein. Man spürt auch, wenn sich etwas verzerrt und verbiegt oder ganz umschlägt und das Glück sich wendet, wenn alles ruiniert ist, in welchem

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