Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze
heute abend ist, dann wird Luisa vielleicht den Telefonhörer wieder auf die Gabel legen, wenn er gegangen ist, im selben Anzug, in dem er gekommen ist, sogar mit Handschuhen, und vielleicht legt sie ihn auf, wenn sie vor dem Portal und auf der Straße seine Schritte hört, die jetzt laut und sicher und entschlossen sind, weil der Fortschritt, der ihn zu ihr führt, so stetig und sicher ist. Deshalb muß ich vielleicht noch weiter insistieren oder es später noch einmal versuchen, wenn ich endlich beschließe, ins Bett zu gehen, um sie zu vergessen, fast elf Uhr in Madrid, was mache ich hier so weit weg, ohne zum Schlafen nach Hause zurückkehren zu können, was mache ich in einem anderen Land, wieso gebärde ich mich wie ein nervöser Bräutigam oder, schlimmer, wie ein unbedeutender Verliebter oder, schlimmer, wie ein dämlicher Verehrer, der sich weigert, zur Kenntnis zu nehmen, was er längst weiß, daß er immer abgewiesen wird. Es ist nicht mehr die Zeit dafür, es ist nicht mehr meine Zeit, oder meine Zeit ist vorbei, ich habe zwei Kinder seit langem, und es ist ihre Mutter, die ich anrufe, Zeit genug, damit mein Denken sie niemals mehr vergißt und sie für mich ewige Kinder sind, denn meine Zeit ist umgeschlagen oder in der Schwebe geblieben, was für einen Sinn hat es, daß ich nervös werde unter dem Vorwand, für die mögliche Zukunft zu fürchten, die die drei erwartet, je nachdem, wer mich ersetzt, soviel ich weiß, ist noch niemand auf dem Weg oder auf diesem Gleis, obwohl Luisa, wenn es so wäre, keinen Grund hätte, es mir zu erzählen, und schon gar nicht ihre gelegentlichen Begegnungen, die im Augenblick zu keinem Anfang führen, wen sie sieht oder mit wem sie ausgeht oder gar mit wem sie ins Bett geht und wen sie verabschiedet an der Wohnungstür, den Morgenmantel über den eben noch erhitzten, nackten Körper geworfen, wem sie bis zum nächsten Mal einen satten Kuß mit auf den Weg gibt, oder vielleicht ist er matt nach einem langen Tag, sie nunmehr ohne jede Spur von Schminke und völlig zerzaust, das Haar kindlich durch die Geschäftigkeit von Nacht und Tag und sichtliche Müdigkeit in den tiefen Augenschatten und in der stumpfen Haut, wenn nicht einmal die Augenblicksfreude des erlebten Abenteuers ein Gesicht verschönern kann, das nur Ruhe und Schlaf erbittet und erträgt, mehr Schlaf, und endlich mit den Gedanken aufhören. Auch ich habe ihr nichts von den drei Frauen erzählt, die hier übernachtet haben, nicht einmal von einer, von welcher, und warum sollte ich das tun, nicht einmal von der, die zurückgekommen ist.
Die Bettler haben sich verzogen, nachdem sie ihre Beute gemacht haben – sie sind nur ein Zwischenspiel aus Asche und Schatten –, und der Platz ist fast leer, ab und zu überquert ihn jemand, niemand ist irgendwo der letzte, immer kommt noch jemand später. Es brennen die Lichter im eleganten Hotel und in einigen Wohnungen, aber in meinem Gesichtsfeld erscheint in diesem Augenblick keine Gestalt. Der unauslotbare Tänzer gegenüber hat aufgehört und seine gelöscht, er hatte zu spät begonnen, um noch viel Gerenne veranstalten zu können. So bleibe ich hier also allein zurück wie ein Bräutigam oder ein Verliebter, wesentlich und unbedeutend, bleibe wach hier zurück.
»Ja?«
Ich nahm den Hörer ab, es hatte kaum geklingelt, ich hatte ihn in Reichweite. Ich meldete mich unwillkürlich auf spanisch, ich hatte schon eine ganze Weile in meiner Sprache sinniert.
»Deza.« So nannte mich Luisa bisweilen, beim Nachnamen, wenn sie für etwas um Vergebung bitten oder etwas aus mir herausbekommen wollte, auch wenn sie durch meine Schuld sehr schlecht gelaunt war. »Hallo, du hast bestimmt angerufen, tut mir leid, ich habe eine Stunde mit meiner Schwester am Telefon verbracht und den Psychiater gespielt, es geht ihr schlecht mit ihrem Mann, und jetzt betrachtet sie mich als Expertin. Stell dir vor. Die Kinder schlafen schon, es tut mir wirklich leid, ich habe sie zu ihrer Zeit ins Bett gebracht, ehrlich gesagt, ich habe erst jetzt daran gedacht, daß heute Donnerstag ist, beim Auflegen, du weiß ja, wie das ist, wenn man etwas klar sieht, das der andere nicht sieht, man sagt es ihm zehnmal und wird langsam wütend und meine Schwester auch, die in Wirklichkeit nur hören will, was sie selbst denkt, und nicht, was ich meinen oder ihr raten kann. Wie geht’s dir?«
Sie klang sehr müde und ziemlich abwesend, als wäre das Sprechen mit mir eine letzte, zusätzliche nächtliche
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