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Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze

Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze

Titel: Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marías
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Geschichte, es gibt islamische Länder, in denen die Frauen sogar dieses Recht nicht haben, soviel ich weiß. Zumindest war das so bei den afghanischen Taliban, wenn ich nicht falsch gelesen habe und mich recht erinnere.«
    »Nein, du irrst dich nicht, Jacobo: die Kinder sind im Wartestand, ihr Unvermögen ist vorübergehend; außerdem, vermute ich, bereiten sie sich seit dem ersten Schrei bei der Geburt darauf vor, und sie machen sich seit frühester Zeit verständlich: mit anderen Mitteln sagen sie bereits Dinge. Was die Stummen und die ohne Zunge und ohne Stimme oder Wort betrifft, so sind das Ausnahmen, Anomalien, Strafen, Unterwerfungen, Schändungen; aber nie die Norm, sie zählen nicht als solche. Und sie genügen nicht, um sie aufzuheben, nicht einmal, um ihr zu widersprechen. Außerdem benutzen die so Geschädigten andere Zeichensysteme, nicht verbale Codes, in denen sie sich sehr rasch zurechtfinden, und du kannst sicher sein, daß sie damit ebenfalls sprechen, nichts anderes. Sofort erzählen und übermitteln sie wieder, wie alle anderen; auch wenn es schriftlich ist oder durch Zeichen und ohne einen Laut; auch wenn es stumm ist, so sagen sie doch immer noch.« Wheeler verstummte und schaute in den Himmel, als wollte er sich beim Sprechen darüber einen Augenblick lang dem erwähnten beredten Schweigen anschließen. Die weißliche, apathische Sonne erhellte seine Augen, ich sah sie stark geädert, wie korinthenfarben grundierte Murmeln aus Marmor. »Vorher habe ich dir gesagt, daß Sprechen, daß die Sprache das ist, was alle teilen, sogar die Opfer mit ihren Henkern, die Herren mit ihren Sklaven und die Menschen mit ihren Göttern, du brauchst nur die Bibel oder Homer zu nehmen oder natürlich die heilige Therese von Avila oder Juan de la Cruz in deiner Sprache. Und doch teilen es einige nicht, wie soll ich sagen, es gibt welche, die es nicht besitzen, und das sind eben nicht die Stummen und die kleinen Kinder.« Jetzt schaute er einen kurzen Moment nach unten, er hatte den Blick noch auf den Rasen gerichtet oder vielleicht tiefer, auf die Erde unter dem Rasen, oder noch tiefer, auf die unsichtbare Erde unter der Erde, als er nach einer kurzen Pause hinzufügte: »Die einzigen, die es nicht teilen, Jacobo, sind die Lebenden mit den Toten.«

M ir scheint, die Zeit ist die einzige Dimension, die sie teilen und in der sie kommunizieren können, die einzige, die ihnen gemeinsam ist und die sie verbindet.« Ich mußte an dieses Zitat denken, oder vielleicht war es eine Paraphrase, und konnte nicht umhin, es sogleich anzuführen oder leise vor mich hin zu sagen.
    Doch Wheeler näherte sich allmählich dem Ende seines Exkurses, dachte ich. In Wirklichkeit wußte er immer, wo er sich befand, und was bei ihm willkürlich oder unfreiwillig zu sein schien, eine Folge der Zerstreutheit, des Alters oder einer etwas konfusen Wahrnehmung der Zeit, seiner exkursiven und diskursiven Neigungen, war gewöhnlich kalkuliert, abgewogen und gebändigt und Teil seiner Machenschaften und seiner vorgezeichneten, vorbereiteten Wege. Ich sagte mir, es würde nicht mehr lange dauern, bis er zum careless talk und zu den Zeichnungen zurückkehrte, er bedachte sie erneut mit einem intensiven Blick, sie lagen auf dem wasserdichten Segeltuch, das den kleinen Tisch bedeckte, wie die Karten einer Patience, auch wir saßen auf den Stoffbahnen, die unsere Sessel schützten, und dieser Faltenwurf gab der Gestalt des falschen Alten etwas leicht Römisches und mir wohl auch, vielleicht gab er uns ein entferntes Aussehen von Senatoren unter freiem Himmel, zu unseren Füßen die Schöße sehr langer, übertriebener Tuniken, die uns fast verhüllten. Deshalb hörte er mir nicht zu oder wollte nicht auf mich eingehen oder achtete nicht weiter auf meine Worte, die nicht meine waren, sondern die eines anderen, sie gehörten einem Toten, als er sie lebend gesprochen hatte.
    »Und das war nicht einmal immer so«, fuhr er mit seinen fort. »Im Lauf der Jahrhunderte teilten auch sie es, in der Vorstellung der Lebenden zumindest, das heißt, in der der künftigen Toten. Nicht nur geschwätzige Gespenster und redselige Wiedergänger, plappernde Geister und lärmende Phantome fast aller Traditionen. Man glaubte, daß man in der anderen Welt völlig natürlich sprach und redete und erzählte. In der gleichen Szene bei Shakespeare, um ein naheliegendes Beispiel zu nehmen, verkündet einer der Soldaten, mit denen der König vor seinem Monolog spricht, daß

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