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Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze

Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze

Titel: Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marías
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oder nicht, wenn es beim Sterben und Töten am Ende vor allem nur um das Überleben ging, um das eigene oder das seiner Lieben. Wahrscheinlich glaubte man schon wenig seit früheren Zeiten, vielleicht seit dem Ersten Krieg, der nicht weniger grausam war für die Welt, die ihm zuschaute und die ebenfalls meine ist, vergiß das nicht, genau wie die, die uns, dich und mich, heute duldet oder mitreißt. Die Grausamkeiten machen die Menschen ungläubig in der Tiefe ihres Bewußtseins und ihrer Gefühle, selbst wenn sie aus einem Reflex heraus, in den sich Aberglauben, Tradition und Resignation mischen, beschließen, nach außen hin das Gegenteil zu bekunden, und sich in den Kirchen versammeln und Hymnen singen, um Gemeinschaftsgefühl zu erzeugen und sich nicht so sehr mit Mut als mit Standhaftigkeit und Einverständnis zu wappnen, so wie auch die Soldaten sangen, während sie fast schutzlos mit ihrem gefällten Bajonett vorwärts marschierten, sie taten es vor allem, um sich ein wenig zu betäuben mit ihrem Geschrei, vor dem Einschuß oder dem Stoß oder bevor sie in die Luft flogen, um das lange vor dem Fleisch verwundete Denken zu narkotisieren und die verschiedenen Geräusche des Todes zu übertönen, der dort auf Jagd ging und leichte Beute machte. Ich weiß das, ich habe das im Feld gesehen. Aber es gibt nicht nur die Brutalitäten und Grausamkeiten, die erlittenen und die anderen, die man für die so gerechte wie ungerechte Sache des Überlebens selbst begeht. Es gibt auch die Hartnäckigkeit der Tatsachen: daß niemand jemals gekommen ist, um nach seinem Tod mit uns zu sprechen, sosehr sie sich auch bemühen, die Spiritisten, die Seher, die Gespensterliebhaber, die Wundergläubigen und sogar unsere heutigen ungläubigen Gläubigen, die es allesamt als Übriggebliebene oder aus Trägheit sind, auch wenn es noch Millionen von ihnen gibt …; diese ganze lange Erfahrung hat uns im Lauf der Jahrhunderte tief in unserem Innern und vielleicht unausgesprochen zu dem Wissen gezwungen, daß die einzigen, die keine Sprache besitzen und niemals sprechen oder erzählen oder reden, sie sind, die Toten.« Peter hielt inne und senkte erneut den Blick und fügte sogleich hinzu, ohne ihn zu heben: »Und damit auch wir, wenn wir ihre Zahl vergrößern. Aber erst dann und nicht vorher.«
    Er verharrte so, den Blick auf den Rasen gerichtet. Er schien zu erwarten, daß ich mich äußern oder ihm eine Frage stellen würde. Aber ich wußte nicht, welche, welche er wollte oder stumm von mir erbat oder ob er überhaupt eine brauchte. Und so fiel mir nur ein, leise vor mich hin zu sagen, was mir in den Sinn kam, und ich sagte es in meiner Sprache, in der es nicht geschrieben wurde, die jedoch die einzige war, in der ich es sagen konnte:
    »Freilich ist es seltsam, die Erde nicht mehr zu bewohnen … das, was man war, nicht mehr zu sein, und selbst den eigenen Namen wegzulassen … Seltsam, die Wünsche nicht weiterzuwünschen … Und das Totsein ist mühsam.«
    Doch zum Glück, vermute ich, schenkte Wheeler auch dem keine Beachtung.
    »Sie sprechen nur in den Träumen mit uns, das ist wahr«, fuhr er dann fort, als hätten meine nicht beachteten halben Verse gleichwohl eine Feder bei ihm betätigt. »Und wir hören sie so deutlich, ihre Gegenwart ist so lebendig, daß es für die Dauer des Schlafs scheint, als seien es tatsächlich diese Menschen, mit denen man im Wachzustand unmöglich einen Satz oder einen Blick tauschen oder irgendeinen Kontakt herstellen kann, die uns erzählen und zuhören und uns sogar erfreuen mit ihrem Lachen, dem wir nachtrauern und das genauso ist wie zu ihren Lebzeiten auf dieser Erde: es ist das gleiche Lachen; wir erkennen es ohne Zögern. Natürlich ist das ziemlich merkwürdig, sogar unerklärlich, wenn du willst, eines von den wenigen Geheimnissen, die noch unversehrt erhalten sind. Aber es besteht kein Zweifel darüber, zumindest bei Rationalisten wie dir und mir und wie Toby es war und auch Tupra es ist, daß diese Stimmen und ihre neuen Worte in uns sind und nicht außerhalb von uns an irgendeinem Ort. Sie sind in unserer Phantasie und in unserer Erinnerung. Sagen wir es so: Es ist die Erinnerung, die phantasiert und in diesem Fall nicht nur erinnert, oder aber auf unreine Art, und vermischt. Sie sind in unseren Träumen, diese Toten; wir sind es, die sie träumen, unser schlafendes Bewußtsein läßt sie auftreten, und niemand sonst kann sie hören. Die Sache gleicht eher einer Verkörperung, einer

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