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Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze

Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze

Titel: Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marías
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gehorchte und sie sich abgrenzen konnten. Erinnerst du dich an die Szene bei Shakespeare, in der der König sich einen geliehenen Umhang überwirft und sich am Vorabend der Schlacht drei Soldaten nähert, sich unter sie mischt, sich zu ihnen aufs Feld setzt und tut, als sei er ein weiterer schlafloser Kämpfer mitten in der Nacht, auf dem Posten, oder just vor dem Morgengrauen? Er richtet das Wort an sie, gibt sich als Freund, spricht mit ihnen, und beim Sprechen sind die vier gleich, er nachdenklicher und gebildeter, sie eher ungehobelt und intuitiv, aber sie verstehen sich vollkommen, sie sind auf der gleichen Verstehens- und Sprechebene, und nichts hindert sie am Austausch ihrer Meinungen und ihrer Eindrücke und sogar ihrer Ängste, und zwei geraten sogar in Streit miteinander und werden wütend, der König, der nicht der König ist, und ein Untertan, der auch kein Untertan ist in diesem Augenblick. So reden sie eine ganze Weile, und der König weiß, daß sie sich im Reden angleichen oder gleichwerden, solange das Gespräch dauert. Deshalb nennt er uns den Unterschied; als er allein zurückbleibt und über das Gehörte nachdenkt, sagt er in seinem Selbstgespräch, was ihn wirklich unterscheidet. Erinnerst du dich an diese Szene, Jacobo?«
    Auch ich legte eine Hand auf die Zeichnungen, als fürchtete ich den Wind.
    »Nein, Peter«, sagte ich. »Welcher König ist das?«
    Doch Wheeler antwortete nicht auf meine Frage und begann statt dessen mit lauter Stimme zu zitieren, ohne daß mir in diesem Fall Zweifel darüber gekommen wären, denn nur sehr wenige außer Shakespeare hätten ›great greatness‹ geschrieben (und unzählige heutige Professoren und Kritiker meines Landes hätten ihn dafür gekreuzigt).
    »›Wie viel Behagen müssen die Könige missen, dessen sich die Einzelnen erfreuen! Und was haben die Könige, das nicht auch die Einzelnen haben, außer der allgemeinen Zeremonie?‹ So sagt der König allein, und ein wenig später wirft er dem, das ihn heraushebt, vor: ›O Zeremonie, zeig mir nur deinen Wert!‹ Und dann fordert er sie heraus: ›O erkranke doch, du große Größe, und gebiete deiner Zeremonie, dich zu heilen!‹ Um zu sehen, was sie vermag oder ob sie nichts vermag. Und später wagt der König gar, den elenden Sklaven zu beneiden, der sich den ganzen Tag in der Sonne abrackert, aber dann tief schläft ›mit gefülltem Leib und leerem Geist‹ und ›nie die grause Nacht, das Kind der Hölle, sieht‹, und ›so folgt er dem Lauf der beständig zurückweichenden Jahre, mit vorteilhaftem Tun bis in sein Grab‹. Und der König schließt mit der obligaten Übertreibung eines jeden Monologs, dem niemand auf der Bühne zuhört und den man nur außerhalb von ihr, nur im Zuschauerraum hört: ›Und wäre nicht die Zeremonie, so hätte er, der seine Tage mit Mühe und seine Nächte mit Schlaf zubringt, vor den Königen Vorrang und Gewinn‹.« Das sagte und zitierte Wheeler mehr oder weniger und fügte sogleich hinzu: »Die alten Könige waren sehr schamlos, aber bei Shakespeare gaben sie sich wenigstens nicht gänzlich der Selbsttäuschung hin: Sie wußten, daß an ihren Händen Blut klebte, und vergaßen nicht, was es war, dem sie die Krone verdankten, abgesehen von den Verbrechen und den Treuebrüchen und den Verschwörungen (ich weiß nicht, ob sie allzu menschlich waren). Zeremonie, Jacobo, das ist es. Die wechselnde, endlose, allgemeine Zeremonie. Und auch die Geheimhaltung, das Mysterium: die Verschlossenheit, das Schweigen. Niemals das Sprechen, niemals das Erzählen, nie Worte, wie erlesen und berauschend auch immer. Denn das ist im Grunde jedem Bettler gegeben und jedem Ausgestoßenen und jedem armen Teufel und dem schlimmsten Abschaum. Was sie in diesem Bereich vom König unterscheidet, ist nur eine unbedeutende Frage der Vervollkommnung und des Grades, der man abhelfen kann.«
    › What infinite heart’s ease must kings neglect that private men enjoy! ‹ hatte Sir Peter Wheeler in Wirklichkeit in seiner Sprache gesagt oder rezitiert, wie ich einige Zeit später feststellen konnte, als ich die Texte fand und wiedererkannte. Und danach den ganzen Rest des Monologs, diese Art von Gedächtnis war bei ihm noch immer intakt, er zitierte verbatim .
    »Aber es ist nicht den kleinen Kindern gegeben«, bemerkte ich daraufhin, »und nicht den Stummen oder denjenigen, denen die Zunge herausgerissen wurde, oder denen das Wort nicht zugestanden oder gewährt wird, das geschah oft in der

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