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Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze

Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze

Titel: Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marías
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halten, ja sie machen sich gegenseitig das Wort streitig und versuchen, es mit Beschlag zu belegen. Es ist rätselhaft, und zugleich ist es nicht rätselhaft. Sprechen, sehr viel mehr als Denken, ist jedem gegeben (ich beziehe mich auf den Willensakt, ich betone es noch einmal, nicht auf das bloß Organische oder Physiologische); das haben die Bösen immer mit den Guten geteilt, die Opfer mit den Henkern, die Grausamen mit den Mitfühlenden, die Aufrichtigen mit den Verlogenen, die wenigen Klugen mit den vielen Dummen, die Sklaven mit den Herren und die Götter mit den Menschen. Alle verfügen sie darüber, die Dummköpfe, die Rohlinge, die Unerbittlichen, die Mörder, die Tyrannen, die Wilden, die Einfältigen; und sogar die Verrückten. Es macht uns so sehr gleich, daß wir seit ewigen Zeiten damit beschäftigt sind, uns leichte Unterschiede zu schaffen, Unterschiede in der Aussprache, der Diktion, der Betonung, im Wortschatz, phonetische oder semantische Unterschiede, um uns jeweils als Gruppe im Besitz einer den anderen unbekannten Sprechweise, eines Erkennungszeichens für Eingeweihte, zu wähnen. Das trifft nicht nur auf die früher so genannte Oberklasse zu, die sich abgrenzen wollte und den Rest der Menschheit verachtete; auch die sogenannte Unterklasse hat seit jeher das gleiche getan, ihre Geringschätzung blieb nicht hinter der anderen zurück, und so sind ihre Ausdrucksweisen, ihre Codes, ihre geheimen oder verschlüsselten Sprachen entstanden, die ihnen erlaubten, sich gegenseitig zu erkennen und die Feinde auszuschließen, das heißt, die Gelehrten, die Wohlhabenden und die Feingeister, und sie daran zu hindern, alles zu verstehen, was ihre Angehörigen miteinander austauschten, so wie die Kriminellen ihr Rotwelsch und die Verfolgten ihre Chiffren erfinden. Innerhalb ein und derselben Sprache trachtet man künstlich danach, sich nicht oder nur halbwegs zu verstehen; man versucht zu verdunkeln, zu verschleiern, und dazu sucht man nach seltsamen Ableitungen und launigen Varianten, hinkenden oder sehr willkürlichen Metaphern, schrägen oder schiefen Bedeutungen, die sich von der allen gemeinsamen Norm entfernen können, es werden sogar neue Wörter geprägt, unnötige Ersatzwörter, um das Gesagte zu unterschlagen und das Mitgeteilte zu verkleiden. Und das ist genau deshalb so, weil das Übliche und Gegebene ist, sich in der Sprache zu verstehen. Diese Sprechweise oder diese Sprache ist beinahe das einzige, was manche besitzen und geben und empfangen: die Ärmsten, die Niedrigsten, die Enterbten, die Ungebildeten, die Gefangenen, die Unglücklichen, die Unterworfenen; die Verfemten und die Ungestalten, wie unser König bei Shakespeare, Richard III., der so großen Nutzen aus seiner Zungenfertigkeit zieht. Das kann man ihnen nicht nehmen, das Sprechen, die Sprache, vielleicht das einzige, was sie gelernt haben und wissen, was ihnen dazu dient, sich mit ihren Kindern oder ihren Partnern zu verständigen, mit dem sie scherzen, lieben, sich wehren, leiden, trösten, beten, sich Luft machen, bitten, überreden, retten und überzeugen; und mit dem sie auch vergiften, anstiften, hassen, Meineide schwören, kränken, fluchen und verraten, verderben, sich verurteilen und sich rächen. Alle haben es, im Guten wie im Bösen, der König ebenso wie seine Vasallen, der Priester ebenso wie seine Gläubigen, der Marschall ebenso wie seine Soldaten. Deshalb existiert die sakrale Sprache, eine, die nicht allen gehört, die nicht für die Menschen, sondern für die Götter bestimmt ist. Doch man vergißt, daß sowohl Gott als auch die Gottheiten ebenfalls sprechen und hören nach unserem alten, vielleicht längst moribunden Glauben (was sind die Gebete anderes als Sätze, Wörter, Silben), und diese sakrale Sprache wird am Ende ebenfalls entziffert und gelernt, alle Codes können eines Tages entschlüsselt werden, früher oder später, kein geheimer wird es ewig bleiben.« Wheeler hielt abermals inne, auch dieses Mal nur kurz, um Luft zu holen. Er legte eine Hand auf die Zeichnungen, die er auf dem Tisch ausgebreitet hatte, eine instinktive Geste, als wollte er vermeiden, daß ein inexistenter Windstoß sie fortwehte, oder sie vielleicht zärtlich berühren. Es war nicht kalt, die Sonne stand sehr hoch, träge und blaß, es herrschte nur eine angenehme Kühle. »So sehr verbindet uns das und macht uns gleich, daß die Mächtigen immer nach nicht-verbalen Signalen, Merkmalen und Zeichen suchen mußten, damit man ihnen

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