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Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze

Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze

Titel: Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marías
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Ersetzung, einer Personifikation von unserer Seite« (in Wirklichkeit war es ein einziger Begriff, den Wheeler im Englischen benutzte: › impersonation ‹), »als vermeintlichen Besuchen oder Warnungen aus dem Jenseits. Dieser Mechanismus ist uns nicht ganz unbekannt, ich meine, im Wachzustand. Bisweilen liebt man jemanden so sehr, daß es einen wenig Mühe kostet, die Welt mit seinen Augen zu sehen und zu fühlen, was dieser Jemand fühlt, soweit die Gefühle der anderen erkennbar sind. Diese Person vorherzusehen, sie zu antizipieren. Buchstäblich in ihre Haut zu schlüpfen. Deshalb existiert dieser Ausdruck, und fast keiner ist umsonst in den Sprachen. Und wenn wir das im Wachzustand machen, dann ist es nicht weiter seltsam, daß diese Verschmelzungen oder Verwandlungen oder Anverwandlungen sich im Schlaf ergeben, oder es sind fast Metamorphosen. Denk an das Sonett von Milton, kennst du es? Milton ist schon eine Weile blind, als er es schreibt, er träumt eines Nachts von seiner toten Frau Catherine, und er sieht und hört sie genau in dieser Dimension, der des Traums, der das poetische Erzählen so gut zuläßt und verträgt. Und in dieser Dimension gewinnt er das Sehvermögen dreifach zurück: das seine, als Fähigkeit und Sinn; das unmögliche Bild seiner Frau, denn nicht nur er, niemand kann sie mehr in der Gegenwart sehen, sie ist von der Bildfläche verschwunden; vor allem aber ihr Gesicht und ihre Gestalt, die bei ihm nicht einmal erinnert sind, sondern vorgestellt, neu und nie zuvor geschaut, denn er hatte sie zu Lebzeiten nur mit dem geistigen Auge und mit dem Tastsinn betrachtet, es war seine zweite Ehe, und er war schon blind bei der Heirat. Und als sie sich neigt, um ihn im Traum zu umarmen, dann: › I wak’d, she fled, and day brought back my night ‹, so endet es.« (›Ich erwachte, sie löste sich auf, und der Tag brachte mir die Nacht zurück.‹) »Mit den Toten kehrt man immer in die Nacht zurück, um nichts als ihr Schweigen zu hören und niemals eine Antwort zu erhalten. Nein, sie sprechen nicht, sie sind die einzigen; aber sie sind auch die Mehrheit, wenn wir ausrechnen, wie viele auf der Welt gewesen sind und sie verlassen haben. Obwohl gewiß alle gesprochen haben, während ihres Aufenthalts.« Wheeler berührte abermals die Zeichnungen, er klopfte mit dem Zeigefinger darauf, wies mit Nachdruck auf sie, als wären sie mehr als sie waren. »Begreifst du, Jacobo, was das bedeutete? Man verlangte von den Bürgern, daß sie schwiegen, daß sie den Mund hielten, daß sie den Schnabel fest verschlossen, daß sie sich jeder unvorsichtigen und sogar scheinbar harmlosen Unterhaltung enthielten. Allen jagte man Angst ein, selbst den Kindern. Angst vor sich selbst und davor, sich zu verraten, und natürlich Angst vor dem anderen, sogar vor dem meistgeliebten, dem vertrautesten und vertrauenswürdigsten. Ich weiß nicht, ob du dir das klarmachst, aber was man von ihnen mit diesen Losungen verlangte, war nicht nur, daß sie auf die Luft verzichteten, sondern daß sie sich dadurch den Toten gleichmachten. Das außerdem in einer Zeit, in der wir jeden Tag von so vielen neuen Toten an den zahllosen, über den halben Globus verstreuten Fronten hörten oder sie vor Ort im Stadtviertel sahen, in der eigenen Straße, Opfer der nächtlichen Bombenangriffe, jeder konnte der nächste sein. Genügten diese Toten nicht? Genügte nicht das so vielen auferlegte endgültige, irreversible Schweigen? Sollten wir, die noch Lebenden, es ihnen überdies gleichtun und vor der Zeit verstummen? Wie konnte man das von einem ganzen Land oder von wem auch immer, auch nur von einem einzelnen Menschen verlangen? Wenn du dir diese Zeichnungen genau anschaust (und es gab noch mehr), dann wirst du sehen, daß niemand, egal wie unbedeutend, davon ausgeschlossen war. Was konnten zum Beispiel diese beiden Damen in der Untergrundbahn, die wahrscheinlich über ihre Hüte oder ihr mehr als harmloses Alltagsleben plaudern, Interessantes oder Gefährliches wissen? Ach ja, sie konnten einen Ehemann, einen Bruder, einen Sohn bei der Armee haben, das war tatsächlich das übliche, und obwohl ihre bereits gewarnten Männer ihnen bestimmt nicht viel erzählten, konnten sie etwas Wichtiges wissen, das von Nutzen war, wie soll ich sagen: ohne zu wissen, daß sie es wußten, oder nicht ahnend, daß es das war. Alle können etwas wissen, selbst der menschenfeindlichste Bettler, mit dem niemand spricht, nicht nur im Krieg, sondern immer, und

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