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Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze

Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze

Titel: Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marías
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das Räsonieren erscheint ihnen überflüssig: was mir den meisten Spaß macht. Ja, ich spreche sehr gern mit dir. Du solltest öfter kommen; außerdem bist du sehr allein in London. Obwohl du es vielleicht schon bald viel weniger sein wirst. Ich muß dir noch einen Vorschlag machen und dich um den Gefallen bitten, ihn anzunehmen, ohne es dir zu lange zu überlegen oder mir viele Fragen zu stellen. Du wirst deine Zeit nicht damit verlieren, weil du sie ohnehin für verloren hältst, die Konvaleszenz der Gefühle füllt man mit irgend etwas, der Inhalt ist das Allerwenigste, mit dem, was als erstes zur Hand ist und am meisten hilft, sie zu vertreiben, man ist wenig anspruchsvoll, nicht wahr? Später dann erinnert man sich kaum an diese Zeiten, auch nicht daran, was man in ihnen getan hat, so als wäre alles erlaubt gewesen, man rechtfertigt sich weitgehend mit Desorientiertheit und Leid; es ist, als hätte es sie nicht gegeben und als befände sich an ihrer Stelle ein weißer Fleck. Auch eine Leere ohne Verantwortlichkeiten, ›Wissen Sie, ich war damals nicht ich selbst‹. O ja, das Leid war immer unser bestes Alibi, der beste Vorwand, um jede unserer Handlungen zu rechtfertigen. Die der Menschen, meine ich, das beste Alibi der menschlichen Gattung, der einzelnen und der Nationen.«
    Das alles sagte er wie beiläufig, aber ich konnte nicht umhin, einen Anflug von Rührung und einen weiteren von Stolz zu empfinden, schließlich und endlich glaubte ich, daß ich ihn zerstreute und ihm sympathisch war und ihm bisweilen schmeichelte und daß er mich ohne große Mühe ertrug, aber niemals mehr als das. Er hatte immer viel zu erzählen und zu argumentieren, obwohl er ersteres nur tröpfchenweise tat; seine Unterhaltung lehrte mich, bildete mich, schenkte mir Ideen oder erneuerte sie, um nicht zu sagen, fesselte mich. Ich bot ihm nicht viel im Austausch, glaube ich, in erster Linie Gesellschaft und aufmerksame Ohren, mein interessiertes Gesicht war keine Verstellung. Rylands hatte ihn mir vererbt, und außerdem stellte sich nun heraus, daß er sein Bruder war. Vielleicht sah Peter mich mit wohlwollenden und liebevollen Augen, weil er mich seinerseits, zum Teil, als ein Erbe von Toby betrachtete, obwohl ich nicht dessen Nachfolger sein konnte, wie es dagegen Wheeler für mich in bezug auf Rylands war. Mir fehlten Alter, gemeinsame Vergangenheit, Scharfsinn, Wissen, Mysterium. Ich geriet etwas in Verwirrung, ich wußte nicht, was ich antworten sollte, also holte ich aus der Innentasche meines Jacketts den Latinokamm, um den er mich gebeten hatte.
    »Da, Peter«, sagte ich. »Ein kleiner Kamm.« Er betrachtete ihn eine Sekunde lang verwirrt, er hatte wohl schon vergessen, daß er ihn brauchte. Dann nahm er ihn zögernd entgegen, hielt ihn gegen das Licht (er war sauber) und ordnete sich das Haar, so gut er konnte, das ist nicht sehr leicht ohne Spiegel und mit einem kleinen Kamm. Die Kopfmitte bekam er ordentlich hin, aber nicht die Seiten, der aeronautische Wind hatte ihm das Haar nach vorne geblasen, und es machte sich rebellisch auf seinen Schläfen breit, was ihn noch römischer aussehen ließ. »Wenn Sie mir erlauben«, sagte ich. Er übergab mir ohne Arg den Kamm, und ich bändigte es mit drei oder vier raschen Strichen zu Ende, das Seitenhaar. Ich vertraute darauf, daß Frau Berry uns nicht beobachtete, sie hätte mich für einen irren, frustrierten Friseur gehalten.
    »Besser, du gehst auch mal drüber«, sagte Wheeler, während er einen kritischen oder fast schaudernden Blick über meinen Kopf gleiten ließ, so als hätte ich mir einen Papagei daraufgesetzt. »Und ich weiß nicht, wie du das geschafft hast, aber du hast überall Grasflecken. Du hast es nicht mal gemerkt«, und er wies auf meine helle Hemdbrust, woraus ich entnehmen konnte, daß er meine zwei oder drei grünen Flecken nicht mit der Rettung seiner Zeichnungen in Verbindung brachte. Nach der Nacht mit Party, Studium und diversen Drinks, dem wenigen Schlaf, der raschen Rasur und den Abenteuern unter freiem Himmel mußte ich wie ein Bettler wirken, der auf dem letzten Loch pfiff, oder wie ein in Ungnade gefallener und mehr als heruntergekommener Ganove. Das Jackett und die Hose waren zerknittert, nachdem ich mich im Rasen gewälzt hatte. »Kaum zu glauben«, fügte Wheeler hinzu, »wie ein kleines Kind.« Bestimmt machte er sich lustig über mich, auch das animierte ihn. Ich fuhr mit zwei Fingern über den Kamm (eine mechanische Geste), und dann entwirrte

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