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Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze

Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze

Titel: Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marías
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Anstrengung, mit der sie nicht gerechnet hatte, und als sei sie noch immer im Gespräch mit ihrer Schwester und nicht mit mir, wenn es dieses Gespräch überhaupt gegeben hatte. Es ist immer das gleiche, tagtäglich und mit jedem Menschen, ständig, bei jedem Austausch von trivialen oder schwerwiegenden Worten, man kann glauben oder nicht glauben, was man erzählt bekommt, es gibt keine anderen Möglichkeiten, es sind zu wenige und sie sind zu simpel, und so glaubt man fast alles, was einem gesagt wird, oder wenn man es nicht glaubt, schweigt man meistens, weil sonst alles mühsam wird und sich verknotet und man ins Stolpern gerät und nichts fließt. Und so bleibt alles, was geäußert wird, prinzipiell als wahr stehen, das Wahre wie das Falsche, es sei denn, letzteres sei bekannt, bekanntermaßen falsch. Das traf jetzt nicht auf Luisa zu, was sie sagte, konnte geschehen sein oder etwas verdecken – ein anderes Telefongespräch, ein Abendessen außer Haus im Schutz einer redseligen Babysitterin, ein verlängerter Besuch und seine Verabschiedung, das ging mich nichts an, und was machte das schon –, ich mußte es für wahr halten, im Grunde durfte ich mir überhaupt keine Fragen darüber stellen. Und außerdem gibt es sehr wohl eine andere Möglichkeit, alles ist voller Halbwahrheiten, wir alle lassen uns von der Wahrheit inspirieren, um uns Lügen auszudenken oder zu improvisieren, also ist an ihnen immer etwas Wahres, ein Grundelement, der Ansatz, die Quelle. Ich weiß es gewöhnlich, auch wenn sie mich nicht betreffen und ein Nachprüfen nicht möglich ist (und oft sind sie mir egal, sie bedeuten mir nichts). Ich erkenne sie ohne Beweise, doch im allgemeinen schweige ich, es sei denn, man bezahlt mich, um auf sie hinzuweisen, wie in meiner beruflichen Phase in London.
    »Gut«, sagte ich, und sogar dieses einzelne Wort war falsch. Ich hatte so gut wie keine Lust zu reden. Nicht einmal nach den Kindern zu fragen, es würde sicher nichts Neues geben. Trotzdem lieferte sie mir eine rasche Zusammenfassung, als wollte sie mich dafür entschädigen, daß ich an diesem Abend nicht ihre Stimmen gehört hatte: vielleicht hatte sie mich deshalb Deza genannt, um sich ihre Vergeßlichkeit vergeben zu lassen, die ich ihr nicht vorwarf, schließlich waren diese Telefonminuten mit dem Jungen und dem Mädchen immer Routine und idiotisch, die gleichen Fragen von mir und ähnliche Antworten von ihnen, die mich nichts fragten, außer wann ich kommen und was ich ihnen mitbringen würde, dann noch ein paar liebevolle Worte und ein paar Scherze, alles steif, der Schmerz kam später im stillen, zumindest der meine, er war erträglich.
    »Ich bin völlig fertig«, sagte Luisa abschließend. »Ich kann nicht länger telefonieren, ich geh jetzt sofort ins Bett.«
    »Gute Nacht. Ich werde versuchen, am Sonntag anzurufen. Ruh dich aus.«
    Ich legte auf, oder wir legten auf, auch ich fühlte mich erschöpft, und am nächsten Morgen erwartete mich ein gutes Stück Arbeit bei Radio BBC, ich arbeitete noch da, ich wußte nicht, daß es nur noch für kurze Zeit war. Während ich mich auszog, um ins Bett zu gehen, dachte ich an eine alberne Frage, die ich Luisa einmal gestellt hatte, während sie sich auszog, um ins Bett zu gehen vor tausend Jahren, kurz nach der Geburt des Jungen, als ich mich noch nicht ganz an seine Existenz oder an seine Allgegenwart gewöhnt hatte. Ich hatte Luisa gefragt, ob sie glaubte, daß das Kind immer mit uns zusammenleben würde, solange es Kind oder sehr jung wäre. Und sie hatte erstaunt und leicht ungeduldig geantwortet: »Natürlich, was für ein Unsinn, mit wem denn sonst?« Und sie hatte sogleich hinzugefügt: »Wenn uns nichts passiert.« »Was meinst du damit?« hatte ich sie ein wenig abwesend oder verwirrt gefragt, wie ich zu jener Zeit gewöhnlich war. Sie war fast nackt. Und ihre Antwort war gewesen: »Nichts Schlimmes, meine ich.« Jetzt war das Kind immer noch ein Kind und lebte nicht mehr mit uns zusammen, sondern nur mit ihr und mit unserem neuen Mädchen, das normalerweise ebenfalls immer so gelebt hätte, mit uns. Etwas Schlimmes mußte uns also passiert sein oder vielleicht nicht uns beiden, sondern mir. Oder ihr.

T upra erwies sich auf den ersten Blick oder bei einem Fest als freundlicher, heiterer, für einen Inselbewohner offen sympathischer Mann mit einer weichen, naiven Eitelkeit, die nicht nur nicht störend war, sondern bewirkte, daß man ihm mit leichter Ironie begegnete und auch mit

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