Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze
instinktiver, keimender Zuneigung. Er war eindeutig Engländer trotz des seltsamen Namens, sehr viel mehr Bertram als Tupra: seine Gestik, seine Betonung, seine abwechselnd hohen und tiefen Töne in ein und derselben Rede, sein sanftes Gewippe auf den Absätzen mit den im Rücken verschränkten Händen, wenn er stand, seine anfängliche gespielte Schüchternheit, dort oft ein Zeichen von Höflichkeit oder die einleitende Erklärung, auf jede verbale Überwältigung verzichten zu wollen – sehr anfänglich die seine, ich meine, daß seine Schüchternheit nicht länger dauerte als das Vorstellen –; und dennoch lebte etwas von seinen fernen oder kenntlichen ausländischen Ursprüngen in ihm fort – womöglich waren sie bloß väterlich –, etwas, das er vielleicht unbewußt und natürlich zu Hause gelernt hatte und das weder das Stadtviertel noch die Schule ganz gelöscht hatten, nicht einmal die Universität Oxford, an der er studiert hatte und die so viele Manierismen und Redewendungen hinterläßt, so viele ausschließende und unterscheidende Verhaltensweisen – sie wirken fast wie Erkennungszeichen oder Chiffren –, nicht wenig Hochmut und sogar gewisse Ticks der Gesichtsmuskulatur in Fällen, in denen die Anpassung an den Ort oder vielmehr an eine alte Legende besonders groß und ungebremst ist. Dieses Etwas hatte mit einer gewissen charakterlichen Härte oder einer gewissen ständigen Anspannung zu tun oder war womöglich eine verhaltene, unterschwellige, gebundene Heftigkeit, die ungeduldig darauf wartete, ohne Zeugen zu sein – oder nur mit den vertrauten –, um hervorzubrechen und sich zu äußern. Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll, es hätte mich nicht gewundert, wenn Tupra, allein oder müßig, wie ein Verrückter in seinem Zimmer getanzt hätte, mit Partnerin oder ohne, aber wahrscheinlich mit einer Frau in Reichweite, es sprang ins Auge, daß sie ihm über alle Maßen gefielen (und wenn das in England der Fall ist, dann ist es sehr deutlich, weil es einen Kontrast zur vorherrschenden Verstellung bildet), nicht nur die Frau in seiner Begleitung, sondern fast jede, auch wenn sie schon in reifem Alter war, es war, als besäße er die Fähigkeit, sie in ihrem vorherigen Zustand zu sehen, als sie noch jung oder, wer weiß, kleine Mädchen waren, sie rückwirkend zu erahnen und mit seinem Auge, das die Vergangenheit auslotete, diese Vergangenheit abermals Gegenwart werden zu lassen für die Zeit, in der er sich bereit fand, sie zu erforschen, und sie zurückholte, und als würden die Frauen, die dabei waren, zu schrumpfen oder zu welken oder unsichtbar zu werden, vor ihm Sinnlichkeit und Kraft zurückgewinnen (oder es war bloß Glanz: das rasche, flüchtige Aufflackern, eher als die Flamme, eines angestrichenen Streichholzes). Am erstaunlichsten war, daß ihm das nicht nur für sich selbst gelang, sondern auch in den Augen der anderen, als wirkte seine Sicht ansteckend, wenn er sie äußerte, oder, anders gesagt, als überzeugte er uns und lehrte uns zu sehen, was er sofort sah und wir niemals wahrgenommen hätten ohne seine Mithilfe und seine Beschreibungen und seinen hinweisenden Zeigefinger.
Das konnte ich bereits bei Sir Peter Wheelers kaltem Abendessen beobachten und natürlich später, mit mehr Sachkenntnis. Später wurde mir in der Tat klar, daß sein Scharfblick für die bereits halb geschriebenen Biographien und die halb zurückgelegten Lebenswege alle gleichermaßen betraf, Frauen und Männer, wenn erstere ihn auch sehr viel mehr anregten und bewegten. Auf Wheelers Fest präsentierte er sich in Begleitung derjenigen, die er diesem als seine neue Freundin angekündigt hatte, eine Frau, die zehn oder zwölf Jahre jünger war als er und in Tupra und in der Situation alles, nur nichts Neues zu sehen schien: sie verschenkte ihr Lächeln an alle, die reich aussahen, streifte sie ohne sichtliche Absicht und bemühte sich, an den Gesprächen teilzunehmen, als spielte sie eine bekannte Rolle und sähe im Geiste auf die Uhr (und sie konsultierte sie zweimal ohne erkennbare geistige Mitarbeit). Sie war groß und sogar zu groß auf ihren gut dressierten Absätzen, mit den kräftigen, soliden Beinen einer Nordamerikanerin und einer leicht pferdehaften Schönheit im Gesicht, angenehmen Zügen, aber bedrohlichem Unterkiefer und kompaktem Gebiß mit allzu rechteckigen Elementen, so daß sich beim Lachen ihre Oberlippe nach oben einzog, bis sie fast verschwand – sie sah besser aus, wenn sie
Weitere Kostenlose Bücher