Dein ist die Rache. McAvoys zweiter Fall: Ein Yorkshire-Krimi (Ein Aector-McAvoy-Krimi) (German Edition)
Unterkiefer, das sich nach oben zu einem struppigen Schopf grauer Haare verjüngte, lag ein ungesunder Schweißglanz. Er hatte keinen schönen Anblick geboten, doch erst ein routinemäßiger Gesundheitscheck veranlasste Russell, ein bisschen mehr auf sich aufzupassen und ins Fitnessstudio zu gehen. Er ist immer noch ein massiges Exemplar, aber unter seinem Hemd liegen inzwischen mehr Muskeln als Fett.
Ray merkt, dass er mit der Schuhsohle Kreuze auf den Hartholzboden malt. Er will seinem Freund bedeuten, endlich mal zu Potte zu kommen. Ihm zu geben, weswegen er hier aufgekreuzt ist.
»Tja, wenn du den Laden schmeißen würdest, Col …«
Ray nickt verständnisvoll. Duldet stillschweigend, dass sein höherrangiger Kollege sich bewusst obstruktiv verhält. Dass er Fakten zurückhält. Dass er Pharaoh nicht gesagt hat, was er jetzt gegenüber einem der alten Riege ausplaudern will …
»Ich brauche einen Ansatzpunkt, Aidy«, sagt Ray und dreht sich um, als er hört, wie die Tür aufgeht. Ein Mann im Anzug streckt den Kopf herein. Wirft einen Blick auf die praktisch leere Bar und zieht sich wieder zurück. Die Tür knallt zu. »Wir wissen alle, dass die Sache dir hätte übertragen werden sollen. Aber sie ist nun mal bei uns gelandet, und Pharaoh hat es auf ihre Tour gedeichselt. Vielleicht wusste sie nicht, wie viel du weißt. Diesen Fehler mache ich nicht, mein Freund. Ich gehe lieber direkt zur Quelle.«
Russell weiß, dass Ray ihm um den Bart geht, aber das scheint ihn nicht weiter zu stören. Er grinst, trinkt einen großen Schluck von seinem Bier und beugt sich dann verschwörerisch vor.
»Ich habe die operativen Berichte durchgeblättert«, sagt er und verzieht spöttisch das Gesicht. »Sie hatte keine Ahnung, worauf sie sich da einließ. Die hatten nie vor, sich dort zu treffen. Diese Informantin? Diese Schnalle, die ihr gesagt hat, wo die Razzia stattfinden soll? Die ist doch unterste Stufe, Mann. Wenn sie auch nur halbwegs bei Verstand war, hat sie bei erster Gelegenheit ihren Bossen zugetragen, was sie Pharaoh erzählt hatte. Und ungefähr dreißig Sekunden später war die neueste Plantage leergeräumt. Die Burschen haben zu gute Verbindungen. Wir machen nur dort Razzien, wo sie es verkraften können. Hier ist ein System am Werk, und sie streut Sand ins Getriebe.«
Ray legt die Stirn in Falten. Seine Augenbrauen laufen in der Mitte zusammen, und er bläst eine Backe auf, als hätte er Zahnschmerzen.
»Ihr habt einen Deal? Ein Arrangement?«
So etwas ist nicht ungewöhnlich. Ray hat schon mit vielen höheren Beamten zusammengearbeitet, die ihre kriminellen Gegenspieler mehr oder weniger als Geschäftspartner ansehen. Er hat Polizisten kennengelernt, die bei Großkriminellen beide Augen zugedrückt haben, nur damit sie publikumswirksam ein paar mittlere Dealer schnappen durften.
Russell winkt ab. »So ist das nicht. Nicht wie früher. Du und ich, wir wissen beide, dass die Vietnamesen seit Jahren den Cannabishandel kontrollieren. Das ist sozusagen ihr Nationalgericht. Niemand sonst macht sich die Mühe. Das ist ihr Ding. Wie die Kolumbianer mit dem Koks. Ein spezielles Talent.«
»Und wer schlägt dann solche Wellen?«
Russell seufzt. »Pharaoh hat einen gewissen Einblick gewonnen, aber nur oberflächlich. Glaubt ihr denn, diese Typen, die sie mit der Nagelpistole bearbeitet haben, wären die Einzigen? Mann, was wir alles für einen Scheiß zu hören kriegen! Wir wissen auch nicht, woher die plötzlich kommen oder was ihre Ziele sind, aber jedenfalls haben die Vietnamesen eine Heidenangst vor der neuen Gruppe.«
»Die Vietnamesen haben vor nichts Angst.«
»Vielleicht keine Angst«, sagt Russell und schwenkt gereizt das Bierglas. »Vielleicht ist es einfach Pragmatismus. Wir wissen, dass die neuen Typen brutale Schläger haben, aber vielleicht haben sie auch die nötige Kohle. Die vietnamesischen Pflanzer verdienen kaum genug, um die Stromrechnung für ihre Plantagen zu bezahlen. Sie haben Bosse. Zahlmeister. Vielleicht haben unsere neuen Jungs einfach die lokalen Arbeitskräfte abgeworben und mit ein paar Demonstrationen ihre Entschlossenheit bekräftigt.«
Ray zieht die Augenbrauen hoch, wartet auf mehr. »Das sind aber eine Menge ›Vielleicht‹, Aidy. Du leitest das Drogendezernat, mein Freund. Na los, rück schon raus damit.«
Russell wird widerborstig. »Hast du die letzten Quartalsberichte gesehen? Willst du wissen, wie viele erfolgreiche Razzien wir in den letzten Monaten durchgeführt
Weitere Kostenlose Bücher