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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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wenn man sie hört, meint man, vor einem ganzen Rockorchester zu stehen, einer Mischung aus Punk und Pink Floyd , so gewaltig und zugleich in sich differenziert ist der Sound. Es quietscht, es knarrt, es röhrt, es hämmert, es ist wirklich Garage mit allen Rückkopplungen, die hineingehören, und ebenso wuchtigen wie präzisen, ebenso rasanten wie variantenreichen Drums, und dabei hast du elektronische Baßläufe und Klangwolken und akustische Einsprengsel, die nicht die selten einsetzbare Singularität von Hammond-Orgeln haben, aber endlich einmal auch nicht klingen wie weiland Rick Wakeman, sondern manchmal wie Kraftwerk , manchmal wie Stockhausen. Ich stand da mit dem Sohn meiner Cousine aus Baltimore, genau gesagt wippte ich vor und zurück, und dachte dankbar, daß Rockmusik im Jahr 2007 genauso klingen könnte, so alt und heutig, so bekannt und nie gehört. Das Problem des Gesangs, das sich stellt, wenn man keinen Sänger wie Jim Morrison hat, also fast immer, haben Urlaub in Polen so gelöst, daß die Stimme meistens elektronisch verzerrt ist oder in dem Klanggewitter beinah untergeht. Die Texte haben auch nichts Gefühlsduseliges wie in der Neoromantik, die derzeit unter jungen Leuten en vogue zu sein scheint, sondern scheinen mehr zum Dada zu tendieren. Ohnehin sind es bloße Fetzen, die zu verstehen sind. Das Ganze ist ja so laut, daß man sich wundert, überhaupt noch etwas zu hören, ich meine Nuancen, nicht nur Krach. Es stellt sich dann ein anderes Hören ein, jenseits otologisch verzeichneter Schallgrenzen, es klingt von innen wie von außen; man hat dieses physische Vibrieren, das Dröhnen im gesamten Körper, und zugleich gewöhnt man sich daran, so daß man in diesem Stahlbad (den Ausdruck erlaube ich mir einfach mal, er trifft es) eben doch die einzelnen Instrumente und Töne unterscheidet, auch wenn man sich selbst fragt, wie das möglich sein soll, da ist doch nur Lärm. Dem Sohn meiner Cousine aus Baltimore ging es ebenso wie mir, wir traten auf die Straße, liefen die paar Meter zu meiner Kneipe, tranken noch ein paar Kölsch, hörten alten Rock oder Blues, gegen den die fünf Bands, die wir zuerst gehört hatten, eben wirkliche Waisenknaben waren, Schülerbands, gingen schlafen und hatten die ganze Zeit diesen Klang von Urlaub in Polen im Ohr, noch beim Träumen, noch beim Aufwachen, noch auf der Fahrt nach Siegen, Wumm, Wuuuumm.
    Zwanzig Jahre ist er nicht mehr durch die Straße gegangen, um zur Bushaltestelle, zur Schule oder zur Oberstadt zu gelangen, nur spaziert nach dem Mittagessen, wenn er bei den Eltern zu Besuch war. Jetzt geht er mehrfach die Woche durch die Straße, um zum St. Marien zu gelangen, das am Fuße des Bergs liegt, in der Eile und mit den flüchtigen Blicken derer, die ein Ziel haben. Nach zwanzig Jahren ist es, als gehöre er wieder hierhin, schon mustern ihn die neuen Nachbarn. Die früheren Nachbarn, die in den Bungalows auf dem letzten, ansteigenden Stück der Straße wohnten, waren alle ungefähren Alters wie die Eltern, in der Lebensmitte, als sie Anfang der siebziger Jahre in damals privilegierter Lage bauten, Pensionäre oder kurz vor der Pension, als der Nachbarsjunge Siegen verließ. Sie sind bestimmt nicht umgezogen, sind also tot, wo in ihren offenen Garagen heute Kombis und Kinderfahrräder parken. Die nette Tochter des Rechtsanwalts fährt noch immer einen VW Bulli, aber inzwischen das neueste Modell mit Aufklebern von griechischen Fähren statt Wir sind die Leute, vor denen uns unsere Eltern immer gewarnt haben . Im Zeitlupentempo müht sich der Ingenieur mit dem starken Siegerländer Akzent die Straße hoch, das R wie die Amerikaner. Vor Jahren hatte er einen Schlaganfall, aber jetzt geht es besser, auch das Reden. Jetzt klingen alle Konsonanten wie sein R. Es ist schön, daß er den Nachbarsjungen noch mit Vornamen anspricht, ihn überhaupt noch kennt. – Ich darf dich doch duzen? Unbedingt! Die Nachbarn von gegenüber schenkten ihm die zweite Schultüte, die ihm auf dem Einschulungsphoto etwas peinlich wurde, weil sie ihn von den neuen Klassenkameraden unterschied. – Ach, schon lange, beantwortet die Mutter seine bange Frage, wußtest du das nicht? Auf Wahlplakaten, die überall in der Stadt hängen, sieht er den Studenten, der ihn zu den Grünen, Friedensdemonstrationen und Blockaden mitnahm. Er sieht immer noch wie ein

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