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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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Student aus, obschon im vierzigsten Semester, dieselben langen braunen Haare, den Vollbart und das freundliche, etwas unsichere Lächeln, mit Sicherheit auch den leicht zu karikierenden, dem Nachbarsjungen sehr sympathischen Hang zur Weltverbesserung in kleinen Schritten. Ungewohnt ist nur das Sakko, das nicht genügt, um die Mutter zu überzeugen, ihm ihre Stimme zu geben. So sieht doch kein Oberbürgermeister aus, sagt sie und fängt an, die Bundeskanzlerin zu loben, die einen Mann nach dem anderen aus dem Weg räume, wovon die Mutter allein unter fünf Männern gelegentlich auch geträumt haben wird. – Aber damals fanden Sie den Studenten sehr nett, wendet der Nachbarsjunge ein. Was aus den Kindern ihrer Straße geworden sein mag? Der eine spielte gut Fußball, die andere hatte einen schrecklichen Vater, der dritte ist sein bester Freund und genauso selten in Siegen, das lebenslang immun macht gegen jedwede Nostalgie. Auch die Stadt sieht er zum ersten Mal nach zwanzig Jahren, wenn die Frau den Vater besucht und er sich solange die Zeit mit der Frühgeborenen vertreibt, die nicht ins St. Marien darf. Die Oberstadt ist nicht einmal so häßlich, wie der Nachbarsjunge es als Ausweis seiner Weltläufigkeit auf Lesungen gern verkündet, bei Sonne und Wochenmarkt aus manchen Blickwinkeln beinah pittoresk. Als er in die Fußgängerzone einläuft, spricht ihn vor einem Wahlkampfzelt der Kandidat der Christdemokraten an, etwa derselbe Jahrgang, vor zwanzig Jahren also womöglich dieselben Cafés, gemeinsame Bekannte. – Bin nur zu Besuch hier, wehrt der Nachbarsjunge die Broschüren ab. – Irgendwie habe ich mir gedacht, daß Sie nicht aus Siegen stammen, sagt der Kandidat der Christdemokraten, was der Nachbarsjunge nichts als Beleidigung auffaßt. Später überlegt er, was genau an seiner Erscheinung fremd geworden ist, kaum die schwarzen Haare des Gastarbeiters, welche die Stahlwerke bereits Anfang der sechziger Jahre dem Stadtbild hinzufügten, eher das unrasierte Gesicht, die schwarze Militärjacke über dem T- Shirt, die ein Siegener für großstädtisch halten könnte, die löchrige Jeans, die Frühgeborene vor der Brust, die Ältere an der Hand und alles mit undurchsichtiger Brille, obwohl Siegen selbst bei Sonne nicht strahlt. Ich bin doch von hier, möchte er dem Kandidaten der Christdemokraten noch zurufen, aber wählen werde ich den Mitbewerber mit den langen Haaren, obwohl der so ein komisches Sakko trägt. An diesem mausgrauen Ort auf ein paar hilflosen Hügeln, zu dem er sich nie zurückgesehnt hat, reichen seine Wurzeln am tiefsten, gesteht er sich ein, nicht in Isfahan, nicht in Köln, sondern Sturheit und Schweigsamkeit, Pietismus und Provinz, ringsum zugegeben schöne Wälder, allerdings auch die meisten Regenstunden Deutschlands und wahrscheinlich deshalb der unfaßbar unfreundliche Stoizismus, den man heute, da sich alle Städte angleichen und auch Siegen aus immer mehr Jungen, Freundlichen und Zugezogenen besteht, nicht mehr so häufig antrifft, aber immer noch häufig genug: Als er vor dem St. Marien rückwärts in die Parklücke einfahren will, steht hinter seinem BMW mit ortsfremdem Kennzeichen ein Taxi, dessen Fahrer offenbar das Blinken zu spät bemerkt hat. Gestisch gibt der Nachbarsjunge zu verstehen, daß er einparken möchte. Da der Taxifahrer nicht zu verstehen scheint und jedenfalls seinen Wagen nicht zurücksetzt, steigt der Junge aus und zeigt auf die Parklücke. Weil der Taxifahrer noch immer nicht reagiert, geht der Junge zum Taxis, klopft an die Scheibe und ruft laut: Ich möchte gern einparken! In aller Ruhe kurbelt der Taxifahrer die Scheibe herunter, beugt sich aus dem offenen Fenster heraus und sagt, ohne den geringsten Ausdruck im Gesicht, der in Siegen der häufigste Gesichtsausdruck ist: Das sehe ich.
    Der Romanschreiber bittet den Studenten, den vorletzten Absatz des Romans, den ich schreibe, ohne weiteren Kommentar auf die Website zu stellen. Er ist gespannt, ob jemand seine Flaschenpost findet und vielleicht sogar zu den beiden Bandmitgliedern weiterträgt, die sich doch freuen müßten. Das Stück über Madjid Kawussifar, das zuvor auf der Website stand, hatte nämlich jemand entdeckt und an eine Zeitung weitergeleitet, die es veröffentlichen wollte. Auch wenn der Romanschreiber die Anfrage ablehnte, freute er sich, daß seine

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