Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
Vom Netzwerk:
Wehklage nicht ganz ohne Echo verhallt ist. Weil es »der poetischen Schönheitslinie ein Linienblatt« unterläge, wie es in den Flegeljahren heißt, scheut er davor zurück, Geld mit dem Roman zu verdienen, den ich schreibe: »Durch den jüdischen Tempel durfte man nach Lightfoot nicht gehen, um bloß nach einem anderen Orte zu gelangen; so ist ein bloßer Durchgang durch den Musentempel verboten. Man darf nicht den Parnaß passieren, um in ein fettes Tal zu laufen.«
    Am Montag, dem 11. September 2007, liest der Romanschreiber auf dem Flug zu einer Podiumsdiskussion, daß die Polizei mit Verweis auf die islamistische Bedrohung die Befugnis erhalten habe, über das Internet auf private Computer zuzugreifen, damit den Kernbezirk heutiger Privatheit zu durchspähen, in dem alle Datenströme zusammenlaufen, die Bankabrechnungen und Kreditkartennummern, sexuellen Vorlieben und Perversionen, Freizeitinteressen, Familienverhältnisse, Geschäftskorrespondenzen, Freundschaften, Liebschaften, Verrat. Jede Art von Text schränkt die Wirklichkeit ein, um sie zu konzentrieren, Reportagen, Essays, Erzählungen bis hin zur Novelle, davon leben Gedichte. Aber im Roman, mag er noch so ausgefeilt sein, wird die Einschränkung zur Lüge, indem er die Totalität will, die Gottes ist. Neunzig Jahre ununterbrochenen Schreibens genügten nicht annähernd, um ein neunzigjähriges Leben zu beschreiben, weil jede Sekunde davon und erst recht die Träume einen Roman enthalten. In diesem Sinne versteht der Romanschreiber Sure 18, Vers 109: »Wäre das Meer Tinte für die Worte meines Herrn, eher ginge das Meer aus als die Worte meines Herrn, und nähmen wir noch ein zweites Meer zu Hilfe.« Natürlich ist es eine Utopie, in einem einzigen Text alles zu schreiben – er wäre unlesbar. Es geht darum, eine Form zu finden, die die Lebensfülle zwar nicht birgt, das wäre unmöglich, aber den Text zum Unendlichen hin öffnet. Längst ist die Hauptmaterie des Romans, den ich schreibe, nur mehr »das Vehikel und das Pillensilber und der Katheder, um darin alles andere zu reden«, wie Jean Paul in einem Brief zugab, und würde der Romanschreiber fortfahren, wenn überhaupt niemand mehr stürbe. Was als der denkbar intentionalste Text begann, hat sich zum reinen Selbstzweck gewandelt. Legt der Romanschreiber die durchschnittliche Lebenserwartung seines Jahrgangs, Erdteils und Geschlechts zugrunde, läuft allein schon die Länge des Romans, den ich schreibe – Stand heute: 732 Seiten oder 2.353.428 Anschläge einschließlich Leerzeichen, also rund hundertfünfzigtausend jeden Monat, knapp vierzigtausend jede Woche, gut fünftausend jeden Tag – auf seine schiere Unlesbarkeit hinaus, jedenfalls auf die Unmöglichkeit, ihn zu veröffentlichen. Da niemand neben ihm sitzt, nur die Stewardeß mit ihrem Container heranrollt, breitet der Romanschreiber auf dem Gangplatz die Arme rasch aus, um sich vorzustellen, was das heißt: ein Roman so dick und vielbändig, daß niemand auf die Idee kommt, ihn lesen zu wollen. Dann hätte sich auch das Problem erledigt, wie er es der Frau sagt und künftig auf Handlungsreisen zu gehen wagt. Wie ein Online-Durchsuchter wäre der Romanschreiber bis zur Unkenntlichkeit entlarvt. »Was liest ein Fahnder, der eine Online-Untersuchung vornimmt?« fragt die Zeitung: »Er blättert im Existenzbuch des PC -Inhabers, verglichen mit dem sich ein Roman wie der Ulysses von James Joyce wie eine leichte Novelle ausnimmt. Ein solches Konvolut von Textsorten, Bildern, fremden und eigenen Verlautbarungen hat noch kein avantgardistischer Roman riskiert.« Die Stewardeß blickt auch irritiert.
    Nicht etwa der Orthopäde, sondern der Vater überredet den Jüngsten, das Bein röntgen zu lassen, mit dem er auch eine Woche nach dem Aus im Fußballturnier nicht auftreten kann. Als der Sohn hinterm Rollstuhl in die Notaufnahme St. Mariens humpelt, schauen alle starr auf den Vater, so erschreckend offenbar ist der Anblick noch für Außenstehende, an den sich die Angehörigen gewöhnt haben: Was hat er? – Ich bin der Patient, löst der Jüngste ein befreites Lachen aus. Nachdem sie die Röntgenbilder betrachtet hat, händigt die Ärztin ihm die Krücken wie eine Tapferkeitsmedaille aus. Welches Fett? fragt er den Pfleger, der die Thrombosespritze ins Fett stechen soll.

Weitere Kostenlose Bücher