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Unsichtbaren Loge verneint das Jean Paul, der in seinen Romanen ebenfalls als Jean Paul auftritt, und könnte gerade damit die Unwahrheit gesagt haben: »Im Grunde ist freilich kein Wort wahr, aber da andre Autoren ihre Romane gern für Lebensbeschreibungen ausgeben: so wird es mir verstattet sein, zuweilen meiner Lebensbeschreibung den Schein eines Romans zu geben.« Für das Theater des zwanzigsten Jahrhunderts gab es kein gröÃeres Verhängnis als Brecht: Hätte er die Verfremdung, die das Natürlichste, ja die Voraussetzung für jede Form des Schauspiels ist, nicht ideologisch in Beschlag genommen und ästhetisch zu einem Kalauer verkommen lassen, hätte das Illusionstheater nicht überlebt. Dann wären auch die Romane andere, wie der Leser sie früher schrieb.
Gegen Ende ihres Besuches, sie haben den Abschied angekündigt, verblüfft der Vater mit dem Wunsch aufzustehen. Aufstehen, Sie? Das Gehen wiederzuerlernen sei merkwürdig. Er wisse, daà es möglich sei, aber nicht mehr, wie es funktioniere. Die Physiotherapeutin dränge und spreche Mut zu, den Beinen zu vertrauen. Zuerst sei es ein absurder Gedanke, daà die Beine den Körper tragen und sogar der Fortbewegung dienen könnten. Der Vater vergleicht sich mit jemandem, der das Fahrradfahren verlernt hat. Als er sich aufrichtet, will der Sohn ihm helfen, doch der Vater erklärt, daà er von selbst stehen müsse, das gehöre dazu und habe die Physiotherapeutin angeordnet. Der Sohn möge nur in der Nähe bleiben. Sorgsam wie ein Skispringer, bevor er sich abstöÃt, stellt der Vater die FüÃe auf den Boden und die Hände neben sich aufs Bett. Konzentration, ein kurzes Gebet mit geschlossenen Augen, Absprung â und dann fliegt der Vater tatsächlich, unfaÃbar für den Sohn. Und fliegt und fliegt. Schiebt den Rollstuhl vor sich her und fliegt, fliegt zur Tür, tritt auf den Flur und fliegt, fliegt fast bis zum Ende des Korridors. Ein Weltrekord im Skiflug kann nicht aufregender sein und auf keinen Fall länger. Eine Woche liegt der letzte Besuch zurück, so lang wie nie, seit dem Vater das Herz geöffnet wurde. Am Sonntag zuvor war das Gehen noch eine Möglichkeit, die man theoretisch erwog â es hieÃ, der Vater müsse demnächst damit anfangen. Dem Sohn, der kein Mediziner ist, erschien die Vorstellung wieder einmal absurd, so schwach wie der Vater letzten Sonntag noch war. Und eine Woche später folgt er ihm durch die sechste Etage ebenjenes Krankenhauses, in dem vor vierzig Jahren der Vater ein Arzt war und der Sohn ein Neugeborenes. Beide verbindet mit St. Marien eine Geschichte wie wahrscheinlich niemand anders unter allen Ãrzten und Pflegern, Nonnen und Patienten. GewissermaÃen sind sie die Dienstältesten hier. Wenn der Sohn nach dem Kindergarten den Vater besuchte, schenkten ihm die Nonnen alle Puddingbecher, die vom Mittagessen übriggeblieben waren. Der Vater schimpfte dann immer ein biÃchen, die Nonnen sollten dem Jungen nicht so viel SüÃes geben, das sei nicht gesund, da war der Sohn schon mit zwei Kinderarmen voll Pudding durch den Flur von St. Marien davongerannt, in dem sie mit achtzig und mit vierzig Jahren noch einmal aufgebrochen sind, aber in umgekehrter Reihenfolge. Pudding, so haben die Söhne ihre Eltern genannt, wirklich wahr, in den Telefonen des Jüngsten ist ihre Nummer noch heute unter P gespeichert. Erst jetzt, wirklich wahr, geht dem Jüngsten auf, warum.
Die nächste Anstellung führte GroÃvater zum bemerkenswerten Agha Seyyed Abolhassan Tabnejad, Sohn eines berühmten Ajatollahs und selbst ein religiöser Führer von höchster Gelehrsamkeit und Tugend, wie GroÃvater gehört hatte, so daà er begeistert zusagte, als ein Freund anbot, ihn beim Seyyed einzuführen, der einen Assistenten suchte. GroÃvater stellte sich ein prächtiges Haus in einem vornehmen Stadtteil vor, in dem der Seyyed wohnte, Diener, Studenten, Anhänger, Bittsteller. Wie überrascht war er, als er die Wohnung betrat. Am östlichen Rand Teherans gelegen, einem Arbeiterviertel, bestand sie aus einem stickigen, fensterlosen Zimmer in der Ecke eines heruntergekommenen Wohnhauses. Und nicht nur das: Agha Seyyed Abolhassan Tabnejad selbst machte nicht eben einen ehrwürdigen Eindruck. Ohne Turban, nur eine kleine weiÃe Mütze auf dem Kopf, die Augen von einer Sonnenbrille verdeckt, lag er halb
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