Dein totes Mädchen: Roman (German Edition)
Sinn gekommen war, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verlieren, dass die Behörden hier zuallererst nach ihr suchen würden. Sie war gefangen in ihrer Schuld, die sie seit drei Jahrzehnten mit sich trug. Er seufzte unwillkürlich und begegnete Björns fragendem Blick. »Ich hatte viel Zeit nachzudenken, seit ich mit Maybrit gesprochen habe«, vertraute Ulf ihm an. »Lilli hat den Mann, der ihre Tochter überfahren hat, getötet, weil er für die Tat nicht zur Rechenschaft gezogen worden wäre. Das Verfahren gegen ihn ist eingestellt worden.«
Björn nickte langsam. »Ehrlich gesagt, kann ich es ihr nicht verdenken, dass sie geschossen hat.«
»Ich will gar nicht auf den Rachegedanken hinaus«, bremste Ulf seinen Freund, »sondern auf die Parallelität der Ereignisse: Auch Lilli wurde für den Tod ihrer Eltern nie zur Rechenschaft gezogen.«
»Da kann ich dir jetzt nicht ganz folgen, fürchte ich«, gab Björn zu.
»Das musst du auch nicht.« Ulf ersparte Björn die weiteren Details seiner Überlegungen: dass Carolines Mord an dem Hamburger Autofahrer nichts anderes war als eine Ersatzhandlung. Damit, dass sie auf diesen Mann geschossen hatte, hatte sie sich selbst gestraft – für eine Tat, die sie nie begangen hatte. Aber das wusste sie nicht.
War er verpflichtet, ihr zu sagen, dass sie damals der Lüge eines alten Mannes aufgesessen war, der sie schamlos benutzt hatte, um sich selbst reinzuwaschen? Dass sie Schweden nie hätte verlassen müssen? Wog die Erleichterung, nicht für den Tod der Eltern verantwortlich zu sein, alles andere auf? Er wusste es nicht. Er wusste lediglich, dass nur noch wenig Zeit blieb. Entsetzlich wenig Zeit.
Nicht mehr als achtundvierzig Stunden, hatte ihn der Arzt gewarnt. Das war der Preis für den Verzicht auf die intensivmedizinische Versorgung. Aber es war Carolines ausdrücklicher Wunsch.
Sie würde sterben.
Egal, was er tat, egal, was war.
Es gab kein Zurück, keine Hilfe, nichts, so sehr er sich auch dagegen aufbäumte. Das Einzige, was er tun konnte, war der Frau, die er liebte, diesen letzten selbstgewählten Weg so leicht wie möglich zu machen und sie zu begleiten, aber hatte er die Kraft dafür?
Björn schien zu spüren, was in ihm vorging. Er stand auf und legte Ulf eine Hand auf die Schulter. »Wir schaffen das gemeinsam«, sagte er ruhig.
*
Björns Pick-up hatte eine durchgehende Sitzbank, und die beiden Männer nahmen Caroline in ihre Mitte. Da saß sie nun, den Kopf an Ulfs Schulter gelehnt, während er seinen Arm um sie gelegt hatte. Er konnte nicht sehen, ob sie wach war oder schlief, spürte nur ihr Gewicht an seinem Körper, die Wärme, die von ihr ausging, und fragte sich, wie er die Zeit bis zu ihrem Tod aushalten sollte. Sein Verstand wünschte, es wäre schon vorbei, sein Herz hasste ihn dafür. Jeder Blick in ihr Gesicht war ein Versuch, sie festzuhalten, als könne er, wenn er nur möglichst viele Details in sich aufnahm, ihr Sterben abwenden. Es gab tausend Dinge, die er ihr noch sagen wollte, er verzehrte sich danach, ihre Stimme zu hören, er verzehrte sich nach ihrer Berührung, ihrem Blick, dem Gefühl ihres Atems auf seiner Haut. Er wollte nicht denken an eine Welt ohne sie, die näher rückte, unaufhörlich, unabänderlich.
Sie erreichten das Haus. Es lag still und ruhig eingebettet im Schnee, Rauch kräuselte sich aus dem Kamin, und als sie auf das Grundstück fuhren, öffnete Maybrit die Tür und trat heraus. Ulf spürte Carolines Freude, als er und Björn ihr aus dem Wagen und die Treppen hinaufhalfen, ins Haus hinein, aus dem ihnen einladende Wärme entgegenströmte und der Geruch von frisch gekochtem Essen. Er bemerkte den schweigenden Blick, den Björn und Maybrit tauschten, ein Blick, der ihn etwas erkennen ließ, das vermutlich schon die ganze Zeit sichtbar vor seinen Augen gewesen war, wenn er nur die Muße gehabt hätte, es zu bemerken. Aber er konnte keine Freude darüber empfinden. Nicht jetzt, nicht hier.
Maybrit hatte Blüten auf das große Bett in Carolines Schlafzimmer gelegt, so wie die Frauen es taten vor einer Hochzeitsnacht, und in der Küche war der alte Esstisch festlich eingedeckt. »Willst du dich erst einmal hinlegen?«, fragte sie Caroline, nachdem sie sich begrüßt hatten.
Caroline schüttelte den Kopf. »Ich möchte einfach nur bei euch sein.«
Maybrit hatte ein leichtes Fischgericht zubereitet, Ulf war sich sicher, dass sie sich vorher im Krankenhaus erkundigt hatte, was Caroline vertrug, und als sie
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