Dein totes Mädchen: Roman (German Edition)
wenig später zusammen am Esstisch saßen, war es mit einem Mal wie früher. Von der angespannten Nervosität, mit der sie sich vor wenigen Tagen im Fjällkrogen begegnet waren, war nichts mehr zu spüren. Es war, als hätten sie alle unausgesprochen beschlossen, diese Stunden miteinander vorbehaltlos zu feiern, aber an ihrer Fröhlichkeit war nichts Aufgesetztes, nichts Zwanghaftes, wer sie beobachtete, hätte nicht geglaubt, dass der Tod lauerte, wartete, selbst wenn er Caroline angesehen hätte. Ihre Augen strahlten, und in ihre blassen Wangen war Farbe zurückgekehrt, so, wie der behandelnde Arzt vorausgesagt hatte.
»Bist du ganz sicher, dass deine Entscheidung richtig ist?«, hatte Ulf sie noch im Krankenhaus gefragt, und sie hatte ihn angesehen und gelächelt.
»Wenn du die Wahl hättest, würdest du deine letzten Stunden vor dich hin dämmern oder genießen wollen?«, hatte sie ihn daraufhin gefragt, und er hatte sich vor Augen führen müssen, dass sie sich nicht erst jetzt für den Tod entschieden hatte. Nun, da er sie inmitten ihrer Freunde sah, fern der sterilen, bedrückenden Umgebung im Krankenhaus, bemerkte er auch die Ruhe, die über sie gekommen war. Vielleicht hatte Björn doch recht gehabt, vielleicht hatte sie ihren Tod geplant, seit sie nach Schweden zurückgekehrt war, aber vielleicht hatte dieser Plan zunächst nur in ihrem Unterbewusstsein existiert.
Die frühe Dämmerung hielt Einzug, und obwohl der Strom wieder da war, machten sie kein Licht. Stattdessen zündete Maybrit die Kerzen an, die sie überall aufgestellt hatte, und Björn stimmte eins der alten schwedischen Lieder an, die sie früher oft gemeinsam gesungen hatten. An dem Ausdruck in Carolines Gesicht, während sie wie alle anderen in die Melodie einstimmte und ihre Finger fest um seine Hand schloss, erkannte Ulf, dass es nicht nur für ihn so war, als schnurrten dreißig Jahre in sich zusammen und verlören sich. Da waren sie wieder, jung und ungestüm, singend und trinkend wie nach einem langen Tag auf den Skipisten. Und natürlich gruben sie neben den Liedern auch die alten Geschichten aus und saßen so bis spät in die Nacht zusammen, bis schließlich Maybrit Björn eine Hand auf die Schulter legte und sagte: »Ich glaube, jetzt sollten wir die beiden ein wenig allein lassen, damit sie noch etwas von der Nacht haben.« Sie hielten den Abschied kurz, aber er war erfüllt von derselben Innigkeit, derselben Liebe und Nähe wie die letzten Stunden. Ulf und Caroline sahen ihnen Arm in Arm von der Tür aus nach, ihr Atem kondensierte in der eisigen Luft und verdichtete sich zu einer Wolke, die noch einen Moment im Licht der Außenlampe hing, als sie die Tür längst geschlossen hatten und in die Wärme des Hauses zurückgekehrt waren.
42.
C aroline beobachtete, wie Ulf die Tür schloss, wie er kurz verharrte und mit den Fingern über das Holz strich, bevor er sich schließlich zu ihr umwandte und sie still anblickte. Die Leichtigkeit, die sie noch Augenblicke zuvor erfüllt hatte, verflog, als sie den Schmerz in seinen Augen sah, die Angst vor dem, was kommen würde, unausweichlich, und mit ihr die Zweifel, ob er stark genug sein würde, es auszuhalten. Es verdrängte ihre eigene Unsicherheit, ihre Schwäche und auch die Müdigkeit, die ihren Körper schwer machte, denn sie begriff plötzlich, dass nicht sie es war, die Stütze und Begleitung benötigte. Sie machte einen Schritt auf ihn zu, umschloss sein Gesicht mit beiden Händen und küsste ihn. Er war unrasiert, sein Bart kratzte über ihre Haut, und in seinem Atem roch sie den Alkohol, den er getrunken hatte. »Danke«, flüsterte sie, während ihre Lippen um die seinen spielten. »Es war so ein wunderschöner Abend.«
Sie spürte, wie er schluckte, mit den Tränen kämpfte. »Ich wünschte, wir könnten noch viele solcher Abende miteinander verbringen«, entgegnete er leise.
»Sch«, machte sie nur und zog ihn an sich. Er ließ es geschehen und vergrub sein Gesicht in der Beuge ihres Halses, Schutz suchend, und dann umschloss er sie mit seinen Armen, als könnte er, wenn er sie nur fest genug hielt, den Tod von ihr fernhalten.
Sie hatten die Lichter im Haus bis auf die kleine Lampe im Schlafzimmer gelöscht. Sie tauchte den Raum in einen matten, goldenen Schein. Ulf stand in der Tür, auf seine Krücke gestützt, und betrachtete die Blüten auf dem Bett, die einen vagen Duft nach Sommer und Sonne verströmten, dann sah er zu Caroline. Sie spürte sein Zögern.
Weitere Kostenlose Bücher