Dein totes Mädchen: Roman (German Edition)
sich neben sie, und sie lehnte sich gegen ihn und blickte über die weite Fläche. Die Sonne war längst über die Berge gestiegen, der Schnee schimmerte weiß und jungfräulich, und die Luft war von kristallener Klarheit. Bleierne Müdigkeit überkam sie, doch sie kämpfte dagegen an, denn es gab noch etwas, das sie Ulf erzählen musste. Sie tastete nach seiner Hand. »Lianne wusste, dass du lebst«, sagte sie leise. Selbst das Sprechen kostete nun Kraft.
»War das der Grund für euren Streit vor ihrem Unfall?«, fragte er sanft.
Sie nickte kaum merklich. »Sie wollte sich mit dir treffen.«
Er schloss seine Arme um sie, und sie legte den Kopf an seine Brust, spürte seine Lippen in ihrem Haar und seinen warmen Atem auf ihrem Gesicht, und selbst hier draußen in der Kälte nahm sie seinen Geruch wahr. Er war um sie, auf ihr, in ihr, und sie nahm ihn mit, wohin auch immer sie ging.
43.
K onnte man spüren, wie ein Mensch starb? Ihr Atem wurde flacher, ihr Herzschlag war kaum noch zu spüren. Sie hielt noch immer seine Hand, doch ihr Griff lockerte sich. Behutsam hob er ihr Kinn an und küsste sie. Sie lächelte. Und dann war sie fort.
Ulf hätte es ihr am liebsten gleichgetan. Was war schlimmer zu ertragen als die Endgültigkeit des Todes? Stumm drückte er Carolines Körper an sich, ihren Körper, der noch so warm und lebendig erschien und doch verlassen war, eine leere, verwaiste Hülle. Er berührte ihr Gesicht, mit einem Mal seltsam emotionslos, ihre trotzigen Lippen, halb geöffnet, als erwarte sie seine nächste Liebkosung, und sacht schloss er ihr die Augen, wohl wissend, welches Geschenk es war, dass sie ihren letzten Blick, ihren letzten Atemzug mit ihm geteilt hatte. Doch wie es immer war im Leben, fielen ihm in diesen ersten Sekunden nach ihrem Tod all die Dinge ein, die ungesagt geblieben waren, und er rannte an gegen die Barriere, hinter der sie verschwunden war, und spürte die Leere, die sich grau und dicht wie Nebel in ihm ausbreitete.
»Ach, Lilli«, brach es schließlich aus ihm heraus, und mit diesen beiden Worten kamen die Tränen, und die Leere füllte sich mit dunklem, reißendem Schmerz.
*
»Ulf?«
Björn war da. Maybrit.
Er wollte sie nicht sehen, nicht mit ihnen sprechen, aber sie ließen nicht locker. »Es geht um die Beerdigung.«
Caroline wollte nie in einem Sarg liegen, nie in die dunkle Erde hinabgelassen werden. Er sagte es ihnen, und sie ließen ihn in Frieden.
Zwei Tage saß er neben ihrem Leichnam und wachte darüber, dann stand er auf, ging und nahm den Hund mit.
*
Niemand hinderte ihn daran, in ihr Haus einzuziehen. Es war leer ohne sie und doch gleichzeitig erfüllt von Erinnerungen. Er vergrub sich in ihnen, tauchte ein in eine Zeit, die dreißig Jahre zurücklag, und in Bilder, die er sich all die Jahre verboten hatte. Er hörte die Musik und las in den Büchern, die sie damals bewegt hatten, er betrachtete die Fotos in Carolines Album und ging das Risiko ein, die Momente, in denen sie entstanden waren, in all ihrer Intensität lebendig werden zu lassen, und stellte dabei fest, dass die Dämonen der Vergangenheit, die ihn jahrelang verfolgt hatten, zu Staub zerfallen waren. Die alten Sehnsüchte hatten sich aufgelöst, denn die Caroline von früher verschwand hinter der Frau, der er unvermutet wieder begegnet war, die ihn nach der langen Trennung erneut in ihren Bann gezogen hatte und mit der er in wenigen Tagen so viel Nähe und Innigkeit verspürt hatte – die einzige Frau, die ihn je in seinem tiefsten Inneren berührt hatte.
Er hielt das Foto in der Hand, das sie mit Lianne zeigte, zwei lachende, unbekümmerte Gesichter. Er glaubte nicht an ein Leben nach dem Tod, dennoch fand er Trost in dem Gedanken, dass sie jetzt vielleicht wieder zusammen waren. Irgendwo. Carolines letzte Worte hatten ihrer Tochter gegolten. Ihrem Verhältnis zu ihm. Sie wollte dich treffen. Er fuhr mit dem Finger über das Gesicht der jungen Frau, die so sehr der jungen Maybrit ähnelte. Wie wäre es wohl gewesen? Durch Lianne waren sie getrennt worden, aber Lianne hätte sie auch wieder zusammengeführt. Er erging sich in Tagträumen über Begegnungen in Stockholm. Das Entdecken ihres Gesichts am Ankunftsterminal des Flughafens. Erste Annäherungen in einem Café. Ein gemeinsames Abendessen. Caroline, die plötzlich in der Tür stand, unsicher und zurückhaltend, am Arm dieser jungen Frau, die so viel bestimmender wirkte als ihre Mutter. So viel selbstbewusster. Sie hätten eine
Weitere Kostenlose Bücher