Dein totes Mädchen: Roman (German Edition)
»Komm«, sagte sie leise, aber er schüttelte den Kopf. »Ich kann das nicht, Lilli.«
Sie nickte ruhig. Er war hier in ihrer Nähe. Sie war zu Hause. Das war alles, was zählte. Sie lauschte, wie er ins Wohnzimmer humpelte und sich dort schwer auf die Couch fallen ließ, dann begann sie, sich langsam auszuziehen. Jede Bewegung kostete Kraft, und sie war erleichtert, als sie endlich im Bett lag, die Decke über sich gebreitet, den Duft der Blüten um sich. Und wie so oft, wenn sie in diesem Bett lag, verfiel sie in eine Gewohnheit aus ihrer Kindheit, blickte auf die Wände mit ihren zahllosen Astlöchern und der groben Maserung und suchte nach den vertrauten Gesichtern und Figuren, die sie bildeten. Oben in der Ecke hockte ein Zwerg mit einer großen Nase, und auf die Mitte zu grasten Schafe. Weiter unten waren der Schmetterling und das Mädchen mit dem wehenden Kleid. Sie lächelte, als sie sich erinnerte, wie sie mit ihrer Mutter früher in diesem Bett gelegen und sie zusammen all diese Bilder betrachtet und sich überlegt hatten, wie sie lebendig wurden, wenn das Mondlicht sie traf, und sie das Haus verließen, um erst im Morgengrauen hastig und ein wenig zerzaust zurückzukehren und die Lücken zu füllen, die sie hinterlassen hatten. Jedes der Wesen hatte einen Namen erhalten, und sie hatten gerätselt, was sie in der Nacht wohl erlebten draußen am See. Müde schloss Caroline die Augen. Sie würde diese Frage nicht mehr klären können.
Sie hörte nicht, wie Ulf spät in der Nacht das Zimmer betrat und sie lange betrachtete, nicht, wie er seine Kleidung abstreifte, und sie merkte auch nicht, wie er sich zu ihr ins Bett legte, erst die Wärme seines Körpers an dem ihren weckte sie und seine leise Stimme an ihrem Ohr. »Es tut mir leid, Lilli.«
Sie lächelte. Niemand sprach ihren Namen so aus wie er. Langsam drehte sie sich zu ihm. »Es gibt nichts, wofür du dich entschuldigen musst«, flüsterte sie. »Du bist hier. Das ist alles, was ich brauche.«
Seine Lippen strichen über ihre Wangen, fanden die ihren. Sie liebten sich ein letztes Mal, und sie schlief in seinen Armen ein und wachte erst wieder auf, als die Sterne verblasst und über den Bergen der erste rote Schimmer der Morgensonne lag. Der Tag versprach wunderschön zu werden. Sie blickte in Ulfs schlafendes Gesicht und beobachtete, wie das Licht die Konturen seiner Züge schärfte, die Linie seines Mundes und die eckigen Kanten seines Unterkiefers unter dem grauen Bartschatten. Wie es sich schließlich über seinen Körper ergoss, der nur halb von der Decke verhüllt war.
Sie war zu schwach zum Aufstehen. Sie hatte gewusst, dass es so kommen würde. Der Arzt hatte es ihr gesagt. Mühsam drehte sie sich auf den Rücken und atmete gegen die Beklemmung an. Ulf regte sich neben ihr, schlug die Augen auf, sah prüfend in ihr Gesicht. Ich bin noch am Leben, wollte sie sagen, aber sie schwieg, lächelte nur und berührte sanft seine Wange.
Er stapelte Kissen in ihrem Rücken und brachte ihr Kaffee ans Bett. Sie nippte daran und betrachtete ihn, während er sich anzog und anschickte, rauszugehen. »Wohin willst du?«, fragte sie.
»Wir brauchen Holz, ich wollte …«, begann er, schwieg aber, als er ihrem Blick begegnete.
»Bleib hier«, sagte sie still.
Alle Farbe wich aus seinem Gesicht.
»Hilf mir, mich anzuziehen«, bat sie. »Ich möchte runter zum See.«
Es dauerte eine Ewigkeit, und sie befürchtete schon, sie würden es nicht mehr schaffen, doch schließlich waren sie so weit. Die Schmerzen in seinem Bein ignorierend, half er ihr auf und stützte sie, während sie langsam, so entsetzlich langsam das Haus verließen. Sie strich mit ihren Fingern über die Wände, den Türrahmen, das Geländer der Veranda, an dem sie so oft gestanden hatte. Und als sie den ausgetretenen Spuren zum See hinunterfolgten, blieb ihr Blick an den Umrissen der Bäume und Sträucher hängen, an dem alten Bootshaus, und fast selbstvergessen legte sie ihre Hand im Vorbeigehen auf den Pfeiler, auf dem der Bussard in den frühen Morgenstunden oft saß. Sie vermisste den Hund, aber Björn hatte ihr von seiner Rettung erzählt.
Es hatte nicht mehr geschneit, seit der Sturm sich gelegt hatte, und auf dem See gleich unterhalb des Bootsstegs waren noch die Abdrücke zu erkennen, die der Hubschrauber hinterlassen hatte. Die Kälte brannte in ihren Lungen, oder war es die Anstrengung, die ihr den Atem nahm? Ulf half ihr, sich auf den Rand des Stegs zu setzen, dann setzte er
Weitere Kostenlose Bücher