Dein totes Mädchen: Roman (German Edition)
würde, und hatte doch nichts dagegen unternommen. Sie hatte nicht gewagt, das Gespräch mit ihrer Tochter zu suchen, ihr zu erzählen, wie es damals gewesen war, ihr zu gestehen, dass ihr Vater, jener junge Mann, dessen Fotografie sie durch die ganze Welt begleitet hatte, nicht bei einem Unfall gestorben war, sondern lebte, und dass sie es gewesen war, die ihn verlassen hatte. Caroline hatte schweigend zugehört, während ihr Lianne ihre Wut, ihren Schmerz und ihre Hilflosigkeit entgegenschleuderte und dabei so sehr ihrem Vater ähnelte, dass Caroline dieselbe Einsamkeit, dieselbe Verzweiflung verspürte wie damals. Und über allem türmte sich eine einzige große Frage auf: Was hatte Lianne über Ulf herausgefunden? Er war plötzlich hier, bei ihnen, so nah, so lebendig wie seit Jahrzehnten nicht mehr.
»Warum sagst du nichts? Sprich mit mir!« Liannes fordernde Stimme schreckte Caroline auf. Ihre Tochter stand mitten in dem sparsam möblierten Wohnzimmer, das lediglich von einer Lichterkette erhellt wurde, die auf der Fensterbank in einer Glasvase zwischen trockenen Zweigen steckte und den Schatten der jungen Frau übergroß auf die Wände projizierte. Caroline sah ihre Tochter müde an. Sie hörte das Flehen in ihrer Stimme. Wie konntest du mich mein ganzes Leben in dem Glauben lassen, er sei tot? Du hast mich um meinen Vater betrogen.
Es war gleichgültig, was sie antwortete, für Lianne wäre es in jedem Fall neuer Zündstoff. Bei jedem anderen Menschen wäre Caroline aufgestanden und gegangen, hätte abgewartet, bis sich die Emotionen abgekühlt hatten. Aber ihre Tochter konnte sie in dieser Seelenqual nicht sich selbst überlassen.
»Wie hast du es herausgefunden?«, fragte Caroline stattdessen.
Lianne schnaubte. »Ist das das Einzige, was dich interessiert?« Es war Schmerz, überbordender Schmerz, der sie so wütend werden ließ. Caroline kannte ihre Tochter. »Lianne, es tut mir so leid, aber es gab keinen anderen Weg für mich.«
»Keinen anderen Weg?«, wiederholte Lianne, und Caroline entging nicht der zynische Unterton in ihrer Stimme. »Du wolltest mich doch nur für dich allein haben. Ist es nicht so?«
Caroline horchte auf. »Wie meinst du das?«, fragte sie zurückhaltend.
Lianne fixierte sie aus ihren dunklen Augen. »Ich weiß das mit Papa schon seit zwei Tagen.«
Caroline schnappte nach Luft. »Und dann hast du mich erst jetzt angerufen?«
»Sehr richtig«, bestätigte Lianne. »Ich brauchte Zeit zum Nachdenken.«
Lianne setzte sich ihr gegenüber an den Tisch. »Und weißt du, was mir in der Zeit klargeworden ist?«
Caroline schüttelte schweigend den Kopf und kämpfte gegen den Wunsch an, einfach aufzustehen und zu gehen.
»Mir ist klargeworden, dass ich mein ganzes Leben lang dein Eigentum gewesen bin. Du hast immer alles beherrscht und bestimmt, du hast unsere Koffer gepackt und uns nach deinem Gutdünken durch die Welt gejagt ohne Rücksicht auf meine Wünsche und Bedürfnisse.«
Caroline schloss die Augen. Liannes Worte prasselten weiter auf sie ein, aber sie hörte nicht mehr zu. Entschlossen stand sie schließlich auf. »Ich gehe jetzt«, sagte sie ruhig, obwohl sie meinte, innerlich in tausend winzige Stücke zu zerspringen.
Lianne starrte sie mit offenem Mund an. »Du kannst jetzt nicht einfach gehen.«
Caroline knöpfte ihren Mantel zu und ging zur Wohnungstür. Lianne rannte ihr nach und hielt sie am Arm fest. »Du kannst jetzt nicht einfach gehen!«, wiederholte sie.
»Doch«, entgegnete Caroline. »Wir können reden, wenn du dich beruhigt hast.« Sie verharrte, mit der Hand auf der Türklinke. »Nur eins möchte ich dir noch sagen: Für dich habe ich den Mann verlassen, den ich über alles geliebt habe. Ich weiß nicht, ob ich es ertragen könnte, ihm wieder zu begegnen.« Ohne sich noch einmal umzusehen, trat sie in den Flur hinaus.
»Und?«, rief Lianne ihr wütend hinterher. »Das war deine Entscheidung, lange bevor ich überhaupt Entscheidungen treffen konnte. Bin ich deshalb mein ganzes Leben lang in deiner Schuld?«
Caroline antwortete nicht.
Während sie die Treppe hinabstieg, bemerkte sie aus dem Augenwinkel die einsame Gestalt ihrer Tochter, die sich über das alte Holzgeländer beugte. »Ich glaube dir nicht, dass du nicht wissen willst, wo dieser Mann jetzt ist, was er macht, wie er aussieht! Er …«
Liannes Stimme verlor sich.
Wurde zu einer anderen Stimme, die in einer anderen Sprache mit ihr redete. »Caroline? Hörst du mich?« Die
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