Dein Wille geschehe - Dein Wille geschehe - Shatter
für etwas zu genießen, mit dem ich so wenig zu tun hatte.
Die Hebamme gab mir eine Schere, um die Nabelschnur durchzuschneiden. Sie wickelte Charlie und drückte sie mir in die Arme. Es war Charlies Geburtstag, aber ich war derjenige, der alle Geschenke bekam. Ich trug sie zu einem Spiegel und betrachtete unser Abbild. Sie öffnete ihre tiefblauen Augen und sah mich an. Bis zum heutigen Tag bin ich nie wieder so angeguckt worden.
Julianne war erschöpft eingeschlafen. Charlie tat es ihr nach. Ich wollte sie wecken. Ich meine, welches Kind verschläft seinen Geburtstag? Ich wollte, dass sie mich noch einmal so ansah, als ob ich der erste Mensch wäre, den sie je gesehen hatte.
Der brummende Kühlschrank verstummt mit einem leisen Rumpeln, und in der plötzlichen Stille spüre ich ein leises, dauerndes Beben in mir, das sich ausdehnt und meine Lunge füllt. Ich fühle mich abgekoppelt. Mir ist kalt. Meine Hände haben aufgehört zu zittern. Mir ist, als wäre ich unvermittelt von einem geruch- und farblosen, unsichtbaren Gas gelähmt. Verzweiflung.
Ich höre nicht, wie die Tür geöffnet wird. Die Schritte im Flur höre ich auch nicht.
»Hallo.«
Ich öffne die Augen. In der Küche steht Darcy in Hut, Jeansjacke und Flickenjeans.
»Wie bist du hergekommen?«
»Ein Freund hat mich mitgenommen.«
Ich wende mich zur Tür und sehe Ruiz, zerknittert, besorgt
und um den Hals noch immer seine auf Halbmast sitzende Rugby-Krawatte.
»Wie geht’s, Joe?«
»Nicht so gut.«
Er schlurft näher. Wenn er mich umarmt, breche ich in Tränen aus. Darcy tut es für ihn, legt ihre Arme um meinen Hals und drückt mich an sich.
»Ich hab es im Radio gehört«, sagt sie. »Ist es derselbe Mann - der, den ich im Zug getroffen habe?«
»Ja.«
Sie streift ihre regenbogenfarbenen Handschuhe ab. Ihre Wangen glühen von dem plötzlichen Temperaturwechsel.
»Wie habt ihr beiden euch denn gefunden?«, frage ich.
Darcy sieht Ruiz an. »Ich habe mehr oder weniger bei ihm gewohnt.«
»Seit wann?«
»Seit ich weggelaufen bin.«
Mir fallen die Kleider im Trockner von Ruiz’ Waschküche wieder ein, der karierte Rock in dem Wäschekorb. Ich hätte ihn erkennen müssen. Darcy trug ihn an dem Tag, an dem sie zum ersten Mal bei uns aufkreuzte.
Ich sehe Ruiz an. »Du hast gesagt, deine Tochter wäre zu Besuch.«
»Ist sie auch«, erwidert er und tut meinen Ärger mit dem gleichen leichten Achselzucken ab, mit dem er seinen Mantel abstreift.
»Claire ist Tänzerin«, fügt Darcy hinzu. »Wusstest du, dass sie am Royal Ballet ausgebildet wurde? Sie sagt, es gibt für Leute wie mich ein Stipendium für besondere Härtefälle. Sie will mir bei der Bewerbung helfen.«
Ich höre nach wie vor nicht auf den Sinn ihrer Worte, sondern warte immer noch auf eine Erklärung von Ruiz.
»Die Kleine brauchte ein paar Tage Ruhe. Ich dachte, es könnte nicht schaden.«
»Ich habe mir Sorgen um sie gemacht.«
»Du bist nicht für sie verantwortlich«, stellt er mit einem leicht scharfen Unterton fest, der mich grübeln lässt, wie viel er weiß.
Darcy redet immer noch. »Vincent hat meinen Vater gefunden. Ich habe ihn getroffen. Es war ziemlich seltsam, aber ganz okay. Ich dachte, er würde besser aussehen, wäre größer oder vielleicht berühmt, aber er ist nur ein gewöhnlicher alter Typ. Ganz normal. Er importiert Lebensmittel. Kaviar. Das sind Fischeier. Er hat mich probieren lassen. Das nenn ich eklig. Er meint, es würde schmecken wie ein Hauch Meeresgischt, aber ich fand, es schmeckt wie Scheiße.«
»Na, na«, sagt Ruiz, und Darcy sieht ihn verlegen an.
Ruiz hat mir gegenüber Platz genommen und die Hände flach auf den Tisch gelegt. »Ich hab den Kerl überprüft. Wohnt in Cambridge. Verheiratet. Zwei Kinder. Er ist in Ordnung.«
Dann wechselt er das Thema und fragt nach Julianne.
»Sie ist mit der Polizei weggefahren.«
»Solltest du nicht bei ihr sein?«
»Sie will mich nicht dabeihaben, und die Polizei hält mich für einen Risikofaktor.«
»Risikofaktor, interessante Einschätzung. Andererseits habe ich deine Ideen auch oft für gefährlich subversiv gehalten.«
»Ich bin ja wohl kaum ein Radikaler.«
»Eher ein Kandidat für die Rotarier.«
Er neckt mich, aber mir fehlt die Kraft für ein Lächeln.
Darcy fragt nach Emma. Sie ist weg. Meine Eltern haben sie zusammen mit Imogen mit nach Wales genommen. Meine Mutter brach in Tränen aus, als sie Charlies Zimmer sah, und hörte nicht auf zu schluchzen, bis mein Vater ihr
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