Dein Wille geschehe - Dein Wille geschehe - Shatter
Flüge starten täglich von Athen aus? Hunderte. Und ich habe keine Ahnung, wohin Mutter und Tochter geflogen sind.
Ruiz legt die Hand auf das Lenkrad, als überließe er dem Mercedes das Steuern. Er wirkt entspannt und nachdenklich, aber ich weiß, dass sein Gehirn auf Hochtouren arbeitet. Ich glaube manchmal, er tut so, als wäre er kein großer Denker und ein bisschen begriffsstutzig, damit die Leute den Fehler begehen, ihn zu unterschätzen.
Darcy sitzt auf der Rückbank, eingestöpselt in ihre Musik. Vielleicht hätte ich mir nicht so viele Sorgen um sie machen müssen.
»Hast du Hunger?«, fragt Ruiz.
»Nein.«
»Wann hast du zum letzten Mal was gegessen?«
»Zum Frühstück.«
»Dann solltest du was essen.«
»Mir geht es gut.«
»Das sagst du dauernd, und irgendwann geht es dir auch wieder gut, aber nicht heute. Du solltest nicht erwarten, dass es dir gut geht. Es geht dir erst wieder gut, wenn Charlie zurück zu Hause ist … und Julianne, damit ihr wieder glückliche Familie spielen könnt.«
»Dafür ist es vielleicht schon zu spät.«
Er mustert mich von der Seite und blickt wieder auf die Straße.
»Wir kriegen sie zurück«, sagt er nach einem langen Schweigen.
Seit sie unser Haus verlassen hat, habe ich nichts von Julianne gehört. Monk hat den Kontakt zur Einsatzzentrale gehalten. Gideon hat wieder angerufen - über mein Handy. Er war irgendwo in der Innenstadt von Bristol in der Nähe der Kathedrale. Oliver Rabb konnte ihn nicht orten, bevor Tyler das Handy in einem Bus zurückgelassen hat. Das Mobiltelefon wurde vor einer Stunde im Busdepot abgeholt.
Es gibt keine Neuigkeiten von Charlie. Laut Monk ist alles getan worden, was getan werden konnte, aber das stimmt nicht. Vierzig Detectives arbeiten an dem Fall. Warum nicht vierhundert oder viertausend? In Radio und Fernsehen wurde ein Appell ausgestrahlt. Warum lässt man nicht sämtliche Sirenen auf allen Dächern heulen, durchsucht jedes Wohnhaus, Lager und Nebengebäude, jeden Bauernhof und jeden Hühnerstall? Warum fliegt man nicht Tommy Lee Jones ein, damit er die Suche organisiert?
Ruiz biegt in die Einfahrt von Stonebridge Manor ein. Im Licht der Scheinwerfer wirkt das Metalltor wie weiß gestrichen. Niemand antwortet auf das Klingeln. Ruiz drückt eine halbe Minute auf den Knopf. Stille.
Er steigt aus und späht durch die Stangen. Im Haus brennt Licht.
»Hey, Darcy, wie viel wiegst du?«, fragt Ruiz.
»So was fragt man ein Mädchen nicht«, gibt sie zurück.
»Meinst du, du könntest über diese Mauer klettern?«
Sie folgt seinem Blick. »Klar.«
»Pass auf die Scherben auf.«
Ruiz wirft seinen Mantel zum Schutz für ihre Hände über die Mauerkrone.
»Was machst du?«, frage ich.
»Aufmerksamkeit erregen.«
Darcy setzt den rechten Fuß in seine gefalteten Hände und wird auf die Mauer gehievt. Sie packt einen Ast und zieht sich, zwischen den zerbrochenen Flaschen balancierend, auf die Füße. Um die Balance zu wahren, hat sie die Arme ausgebreitet, aber es besteht keine Gefahr, dass sie fallen könnte. Haltung und Gleichgewicht sind bei ihr eine Frage stundenlanger Übung.
»Sie wird noch erschossen werden«, sage ich zu Ruiz.
»So genau könnte Skipper nie zielen«, antwortet er.
»Ich kann einem Eichhörnchen auf fünfzig Fuß Entfernung ein Auge ausschießen«, lässt sich eine Stimme aus der Dunkelheit vernehmen.
»Und ich dachte, Sie wären ein Naturfreund«, erwidert Ruiz. »Vermutlich sind Sie doch ein hundertprozentiger Redneck.«
Skipper tritt, ein Gewehr an die Brust gedrückt, in das Licht der Scheinwerfer. Darcy steht immer noch auf der Mauer.
»Kommen Sie runter, Miss.«
»Ganz sicher?«
Er nickt.
Darcy gehorcht, aber nicht wie erwartet. Sie springt auf ihn zu, und Skipper muss das Gewehr fallen lassen, um sie aufzufangen. Jetzt ist sie auf seiner Seite des Tors, worauf er überhaupt nicht gefasst war.
»Wir müssen Mr. und Mrs. Chambers sprechen«, sage ich.
»Sie sind nicht zu sprechen.«
»Das haben Sie beim letzten Mal auch gesagt«, erwidert Ruiz.
Skipper hält Darcy am Arm fest. Er weiß nicht, was er machen soll.
»Meine Tochter wird vermisst. Gideon Tyler hat sie.«
An der Art, wie sein Blick zu mir zuckt, erkenne ich, dass er ganz Ohr ist. Deswegen ist er hier - um Gideon Tyler am Eindringen zu hindern.
»Wo ist Tyler jetzt?«
»Das wissen wir nicht.«
Er blickt zu dem Wagen, als hätte er Angst, dass Gideon sich darin verstecken könnte. Dann zieht er ein Funkgerät aus
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