Dein Wille geschehe - Dein Wille geschehe - Shatter
jedenfalls nicht von Brücken, wenn sie Höhenangst haben.«
»Wir haben sie beide springen sehen.«
»Ja.«
»Deshalb ist Ihre Argumentation sinnlos. Niemand hat sie gestoßen. Sie standen am nächsten. Haben Sie irgendjemanden gesehen? Oder glauben Sie, dass sie per Fernsteuerung ermordet wurde? Hypnose? Gedankenkontrolle?«
»Sie wollte nicht springen. Sie hat sich einfach ergeben. Sie hat ihre Kleider ausgezogen und einen Regenmantel angelegt. Sie hat keinen Abschiedsbrief hinterlassen. Sie hat weder ihre
Angelegenheiten geregelt noch ihre Besitztümer verteilt. Nichts an ihrem Verhalten war typisch für eine Frau, die sich umbringen will. Eine Frau mit Höhenangst springt nicht freiwillig von einer Brücke. Sie tut es nicht nackt. Sie beschmiert ihren Körper nicht mit Beleidigungen. Frauen ihres Alters sind sehr körperbewusst. Sie kleiden sich vorteilhaft.«
»Sie machen Ausflüchte, Professor. Die Lady ist gesprungen.«
»Sie hat mit jemandem telefoniert. Er könnte etwas zu ihr gesagt haben.«
»Vielleicht hat sie eine schlechte Nachricht erhalten: ein Todesfall in der Verwandtschaft oder eine schlimme Diagnose. Vielleicht hatte sie auch einfach einen Streit mit ihrem Freund, weil der sie abserviert hat.«
»Sie hatte keinen Freund.«
»Hat die Tochter Ihnen das erzählt?«
»Warum hat sich die Person am Telefon noch nicht gemeldet? Wenn eine Frau droht, von einer Brücke zu springen, ruft man doch die Polizei oder einen Krankenwagen.«
»Wahrscheinlich ist er verheiratet und will nicht in die Sache verwickelt werden.«
Es gelingt mir nicht, sie zu überzeugen. Ich habe eine Theorie, aber keine schlagenden Beweise, um sie zu belegen. Theorien erlangen die Beständigkeit von Tatsachen durch Beharrlichkeit und zunehmende Bedeutung. Das Gleiche gilt für Trugschlüsse. Dadurch werden sie aber nicht wahrer.
Veronica Cray starrt auf meinen linken Arm, der zu zucken begonnen hat und meine Schultern zittern lässt. Ich halte ihn fest.
»Wie kommen Sie darauf, dass Mrs. Wheeler Höhenangst hatte?«
»Darcy hat es mir erzählt.«
»Und Sie glauben ihr - einem minderjährigen Mädchen, das unter Schock steht, trauert und nicht verstehen kann, wie der wichtigste Mensch in seinem Leben es verlassen konnte …«
»Hat die Polizei ihr Auto untersucht?«
»Der Wagen wurde sichergestellt.«
Das ist nicht das Gleiche, und sie weiß es.
»Wo ist der Wagen jetzt?«, frage ich.
»In der Polizeigarage.«
»Kann ich ihn sehen?«
»Nein.«
Sie weiß nicht, was ich im Sinn habe, aber was auch passiert, ich werde der Polizei zusätzliche Arbeit bereiten. Ich ziehe die offizielle Ermittlung in Zweifel.
»Es ist nicht mein Fall, Professor. Ich muss wirkliche Verbrechen aufklären. Es war ein Selbstmord. Tod durch Schwerkraft. Wir waren beide Zeugen. Selbstmorde sollen keinen Sinn ergeben, weil sie sinnlos sind. Und ich sage Ihnen noch etwas, die meisten Menschen hinterlassen auch keinen Abschiedsbrief. Sie drehen einfach durch und lassen alle ratlos zurück.«
»Es gab keinerlei Anzeichen dafür, dass sie -«
»Lassen Sie mich ausreden«, herrscht sie mich an. Meine Haut kribbelt vor Betretenheit. »Schauen Sie sich an, Professor. Sie leiden unter einer Krankheit. Wachen Sie jeden Morgen auf und denken: Wow, ist das Leben nicht wunderbar? Oder betrachten Sie an manchen Tagen Ihre zitternden Gliedmaßen, überlegen, was vor Ihnen liegt, und denken nur einen Moment, eine flüchtige Sekunde lang an einen Ausweg?«
Sie lehnt sich auf ihrem Stuhl zurück und starrt an die Decke. »Das tun wir alle. Wir tragen unsere Vergangenheit mit uns herum - die Fehler, die Traurigkeit. Sie sagen, Christine Wheeler wäre eine Optimistin gewesen. Sie hat ihre Tochter geliebt. Sie hat ihren Beruf geliebt. Aber Sie kennen sie eigentlich gar nicht. Vielleicht hat ihr irgendwas an all den Hochzeiten zugesetzt. All die Märchen, weißen Kleider und Blumen, all die Jaworte. Vielleicht hat es sie an ihre eigene Hochzeit erinnert und daran, dass sie nicht an ihre Fantasien herangereicht hat. Ihr Mann hat sie verlassen. Sie hat allein ein Kind großgezogen. Ich weiß es nicht. Niemand weiß es.«
DI Cray dreht den Kopf von einer Seite zur anderen und dehnt ihre Halsmuskeln. Sie ist noch nicht fertig.
»Sie haben Schuldgefühle. Das verstehe ich. Sie denken, Sie hätten sie retten sollen, aber was auf dieser Brücke geschehen ist, ist nicht Ihre Schuld. Sie haben getan, was Sie konnten. Und dafür sind Ihnen die Leute dankbar.
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