Deine Lippen, so kalt (German Edition)
Habe ich nicht. So viel weiß ich. So viel weiß er .
Es ist seine Hand, die nun meinen Rücken streichelt, und ich bin fast eingeschlafen, als ich das Donnern höre.
Danny, dessen Augen in der Dunkelheit wie polierte Steine glänzen, kauert in der Ecke, die Arme um die Knie geschlungen. Peng . Sein Kopf schlägt mit einem Übelkeit erregenden Geräusch gegen die Wand, ein nasser Schwall spritzt nach allen Seiten. Peng .
»Das hast du nicht gewollt«, sagt er, und Gabriel streichelt meinen Rücken. Peng .
»Aufhören«, flüstere ich, aber Gabriel lässt mich nicht los. Blut rinnt an Dannys Schädel hinunter, es tropft dickflüssig und dunkel auf sein T-Shirt. Peng .
Ich öffne keuchend die Augen; die Wand hinter meinem Bett wackelt. Es ist Sonntagmorgen und mir fällt ein, dass Robin in letzter Zeit Kopfbälle in ihrem Zimmer übt, mit der Wand als Gegner.
Ich werfe mit zusammengekniffenen Augen einen Blick auf meinen Wecker. Zehn Uhr siebenundvierzig. Das ist sogar für einen Sonntagmorgen viel zu spät, um mich bei Mom zu beschweren. Ich vergrabe stattdessen meinen Kopf unter dem Kissen. Aber das hilft auch nicht. Ich spüre die Erschütterungen noch immer.
Ich sehe Dannys Gesicht vor mir. Peng .
Ich balle die Hand zu einer Faust und hämmere damit gegen die Wand. Dann setze ich mich auf, um die Bettdecke zurückzuschlagen. Ich hasse Sonntage.
Sonntage sind die einzigen Tage, an denen der Frisörsalon geschlossen hat, also waren sie früher das Größte. Sonntags gab es Pfannkuchen oder Waffeln zum Frühstück, und wir machten es uns am Tisch gemütlich, während das Radio im Hintergrund dudelte. An den Sonntagen schnitt Mom uns in der Küche die Haare oder wir überredeten sie, uns Locken zu machen oder Zöpfe zu flechten oder unser Haar zu eleganten Knoten hochzustecken. Wir gingen auf den Spielplatz oder ins Einkaufszentrum, an Regentagen buken wir Plätzchen oder sahen uns einen Film im Ein-Dollar-Kino auf der South Side an. Dad ist schon so lange weg, dass Robin sich nicht an andere Wochenenden erinnert, solche, an denen wir zu viert in den Park gingen oder zum Pizzaessen in die Stadt – oder wie wir uns an Wintertagen auf dem Sofa alle aneinanderkuschelten und Filme guckten.
Ich erinnere mich daran, aber Dad ist schon so lange fort, dass der Schmerz darüber abgestumpft ist, es ist ein vager, wunder Punkt, von dem ich weiß, dass ich besser nicht daran rühre. Die Erinnerungen an Tante Mari und Grandma ruhen zu lassen fällt mir viel schwerer.
Inzwischen ist sowieso alles anders. Zum einen sind wir älter, sogar Robin hat keine Lust mehr darauf, in der Küche zu sitzen und Frisör zu spielen. Im Frühjahr und Herbst hat sie sonntags Fußballtraining und ich arbeite manchmal im Bliss . Mom nutzt den Tag zum Wäschewaschen und Badputzen – beides Tätigkeiten, bei denen sie nicht darauf vertraut, dass wir sie richtig machen – und verbringt den Nachmittag gemütlich auf dem Sofa mit einem Film oder Buch.
Vergangenes Frühjahr hätte ich ihr dabei vielleicht noch Gesellschaft geleistet und auf dem Sofa zusammengerollt eine Romanze geguckt oder sie gebeten, mich die Französischvokabeln abzuhören. Mit anderen Worten: bevor Danny gestorben ist. Bevor ich so ungeheuer viel zu verbergen hatte.
Jetzt ist der Sonntag der Tag, an dem es für mich am schwierigsten ist, Danny zu besuchen. Sogar wenn Mom beschließt, noch in den Supermarkt zu springen, ist sie nie länger als ein, zwei Stunden weg, und wenn wir beide zu Hause sind, fühle ich ihren Blick so schwer auf mir lasten, als wöge er hundert Pfund.
Sie ist in der Küche, als ich nach unten komme, und blickt kurz vom Wäschefalten hoch. Gähnend tapse ich auf die Kaffeemaschine zu.
»Sie macht es schon wieder.« Ich schließe die Augen, während ich die Kaffeetasse an die Nase hebe und tief einatme. Wenn ich mich allein auf diesen Duft konzentriere, wird der Traum verblassen, sich in Luft auflösen, wie der heiße Dampf, der aus meiner Tasse steigt.
»Ich brauche ein bisschen mehr Info als das, Schatz.« Ich höre das Lächeln in ihren Worten. Also ist heute ein guter Tag. Ich weiß, sie hatte im Salon viel zu tun, und das macht sie immer fröhlich.
»Robin. Fußball. Wand.« Ich lasse mich auf den Stuhl ihr gegenüber fallen und stelle meine Tasse ab.
»Hey, spritz nicht so rum«, sagt Mom und schüttelt dann den Kopf, auf das Geräusch von oben lauschend. Von dort dringt ein schwaches peng, peng, peng zu uns in die Küche und sie seufzt.
Weitere Kostenlose Bücher