Deine Lippen, so kalt (German Edition)
zumindest. Meine Mom vermisse ich manchmal, aber sie war echt krank und jetzt ist sie es nicht mehr, also … Ich glaube, für Olivia ist es schlimmer.«
»Ist das deine Schwester?« Wir sind langsamer geworden, wirbeln mit unseren Tritten einträchtig die schlammigen Blätterhaufen auf dem feuchten Bürgersteig auf.
»Hm. Sie ist Barkeeperin im Bar Car , dem Schuppen beim Bahnhof, und sie unterrichtet an einigen Vormittagen Yoga im Y .«
Ich werfe ihm einen kurzen Blick von der Seite zu, aber er konzentriert sich voll auf den Bürgersteig und passt auf, auch ja in die Mitte der Vierecke zu treten und nicht auf die Linien.
Das hört sich hart an. Für uns ist es schon schwer genug, allein mit unserer Mom, aber zumindest ist sie eine Erwachsene, auch wenn Dad eine kalte, ungemütliche Lücke hinterlassen hat, als er uns verließ. Ich frage mich, wie alt Gabriels Schwester wohl ist, ob sie das College aufgeben musste und wo genau ihr Dad ist, und plötzlich wendet Gabriel mir den Kopf zu und mustert mich mit einem wissenden Grinsen.
»Neugierig, hm?«
Ich zucke zurück, als hätte er mich geschlagen. »Nicht fair.«
»Nun, deine Gedanken haben sich um mich gedreht, also habe ich mir gedacht, es sei ein klitzekleines bisschen fair.«
»Aber das hättest du gar nicht gewusst, wenn du nicht spioniert hättest.« Ich klinge wie ein kleines Kind kurz vor dem Trotzanfall und ich hasse mich dafür. Und obwohl ich darauf brenne, ihn nach seiner Großmutter zu fragen und nach dem, was er über Leute mit Kräften wie meinen weiß, möchte ich ihm noch viel lieber entgegenbrüllen: Hör auf, in mich reinzugucken!
Vielleicht spürt er das ja, denn sein Grinsen verblasst, und er vergräbt sich wieder in seiner Jacke, als der Wind auffrischt und in Böen die Straße entlangfegt. »Es tut mir leid. Ich wollte dich nur etwas aufziehen. Olivia ist vierundzwanzig, und nein, sie ist nie aufs College gegangen. Das mit meinem Dad ist, ähm, eine andere Geschichte.«
Er sieht so zerknirscht aus, beinah schüchtern, dass ich mich bei ihm entschuldigen möchte, aber ich tue es nicht. Ich kann es nicht. Das wird mir klar, als ich beobachte, wie seine merkwürdigen Augen hinter einem Vorhang aus Haaren verborgen über mein Gesicht huschen.
Er ist bloß ein Junge. Na schön, ein ganz schön niedlicher und irgendwie faszinierender, aber trotz allem bloß ein Junge. Und ich habe einen Jungen. Ich habe einen Freund , auch wenn der Rest der Welt denkt, er sei fort. Ich habe einen Freund, der nur mich hat und noch nicht einmal alles von mir, nicht mehr. Gabriel geht mich nichts an, nicht hier und jetzt und auch nicht irgendwann. Und ich darf nicht zulassen, dass er glaubt, es sei anders.
Also straffe ich die Schultern, rücke den abgenutzten JanSport-Rucksack zurecht und sehe ihn entschlossen an. »Es tut mir leid. Das klingt hart.«
Er blinzelt, vielleicht überrascht ihn mein Ton, aber bevor er etwas erwidern kann, deute ich auf das Schild, auf dem Edgewood steht, der Name meiner Straße. Mein Magen ist in Aufruhr, Übelkeit steigt in mir hoch und meine Kehle brennt, weil ich es hasse zu lügen, so zu tun als ob, und es sich anfühlt, als würde ich im Moment nichts anderes mehr tun.
»Das ist meine und ich bin spät dran, also werde ich rennen. Tschüss, Gabriel.«
Meine Docs erzeugen ein klatschendes Geräusch auf dem Bürgersteig, als ich davonlaufe, und falls er etwas erwidert, trägt der Wind die Worte mit sich fort.
Kapitel acht
D anny sagt: »Das hast du nicht gewollt«, und zieht mich an sich. Ich nicke, obwohl das nicht richtig geht, weil ich meine Stirn an seine Brust presse, und er streichelt mich mit seiner Hand, die warm, fest und so groß ist, dass sie beinah von einer Seite meines Rückens zur anderen reicht, wenn er die Finger spreizt.
Warm. Warm? Ich drehe den Kopf, sodass meine Wange an seinem Schlüsselbein ruht, und da, direkt unter der Haut, ist der feste Takt seines Herzens, das beständig schlägt.
»Danny …«
Aber als ich den Kopf hebe, um ihn anzusehen, ist es Gabriel, sein Lächeln ein plötzlicher greller Blitz. »Das hast du nicht gewollt«, sagt er, und ich nicke wieder, obwohl ich nicht sicher bin, was er damit meint.
Er riecht gut, leicht würzig, und er ist so warm, so warm , ich spüre, wie sein Blut die Wärme durch seinen Körper transportiert, wie sie durch Knochen und Muskeln bis in die Haut dringt.
»Das hast du nicht gewollt«, flüstert er in mein Haar, und ich schließe die Augen.
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