Deine Lippen, so kalt (German Edition)
laufen können, selbst wenn er sich endlich auf die Physiotherapie konzentriert und sein Leben wieder in den Griff bekommt.
Er reibt sich die Augen und holt tief Luft, als nähme er Anlauf, etwas zu sagen, und ich wünschte, er täte es nicht. Am meisten wünsche ich mir, ich könnte einfach gehen, aber Becker ist auch mein Freund, und manchmal komme ich mir mies vor, weil ich denke, dass ich mich wegen ihm schlechter fühlen sollte. Becker hat den Unfall überlebt, aber auch für ihn ist das Leben, so wie er es kannte, vorbei.
»Wie geht’s dir?«, fragt er ein wenig schleppend.
Ich zucke die Achseln. »Das sollte ich dich fragen.«
Er schnaubt abwehrend und schüttelt den Kopf. »Alles beim alten, so ziemlich jedenfalls.«
»Bei mir auch, schätze ich.«
Er schluckt hörbar und sieht mich nicht an, als er sagt: »Es tut mir so leid, Wren. Ich wünschte …«
»Becker, nicht.« Ich kann mir das heute nicht anhören. »Lass uns was gucken, okay?«
Eine Minute lang antwortet er nicht, und er richtet den Blick auch nicht von der zerwühlten, gesteppten blauen Bettdecke, und ich frage mich, ob er vielleicht eingeschlafen ist oder einfach nur fürchterlich high. Aber einen Moment später hebt er den Kopf, und seine Augen sind glasig und glänzen feucht.
Ich drehe mich zum Fernseher, als er ihn einschaltet, und wir gucken irgend so ein Hinter-den-Kulissen-Zeugs über eine Metalband, von der ich noch nie gehört habe. Aber das ist mir egal. Es ist besser als reden.
Und es ist viel besser, als darüber nachzudenken, dass keiner von uns loslassen kann: Becker den Jungen nicht, der er vor dem Unfall war, und ich den Jungen nicht, den ich verloren habe. Uns an ihnen festzuklammern, tut keinem von uns gut, aber es ist zu spät, etwas daran zu ändern, für mich jedenfalls.
Er ist eingeschlafen, als ich ihn einige Zeit später noch mal ansehe. Sein Kopf ist auf eine Schulter gesunken, die Haut unter seinen Augen schimmert bläulich und ist viel zu dünn. Ich mache den Fernseher aus, ehe ich gehe, und denke lieber nicht darüber nach, was er wohl träumt.
Auf dem Heimweg lege ich eine kurze Kaffeepause beim Bliss ein und gehe danach gerade die Elm entlang, als Mom neben mir hält und hupt. »Steig ein«, ruft sie. Sie grinst, als wäre es der tollste Zufall aller Zeiten, und mir fällt keine gute Ausrede ein, ihr Angebot abzulehnen, obwohl Danny noch immer allein auf dem Dachboden der Garage ist.
Wir halten noch bei einem Supermarkt, und Robin schlägt vor, dass wir Enchiladas machen, etwas, das wir schon ewig nicht mehr getan haben. Sie leuchtet wie ein Weihnachtsbaum, hat hochrote Wangen und sprudelt mal hier mal dort auf eine Weise über, die ihr selbst anscheinend gar nicht klar ist. Das Feuer, das Mom im Kamin angezündet hat, flackert höher, als Robin sich davorsetzt. Die Paprikaschoten, die bereits ein paar Dellen haben, werden wieder fest und glänzend, als sie sie aus der Einkaufstüte nimmt. Sie ist mit drei neuen T-Shirts und einem Paar Ohrringen nach Hause gekommen, und es ist süß, wie glücklich ein Nachmittag mit Mom in der Mall sie machen kann.
Wir haben uns gerade gesetzt, um mit dem Essen zu beginnen, als das Handy in meiner Jackentasche vibriert. Mom hebt eine Augenbraue, protestiert aber nicht, obwohl Handys verboten sind, wenn wir gemeinsam beim Essen sitzen. Wir haben heute Abend viel Spaß und erst dadurch fällt mir auf, wie lang es her ist, dass wir etwas in dieser Art gemacht haben.
Ich ziehe mein Handy aus der Tasche und werfe einen Blick auf das Display. Jess. Na toll.
Wir haben am Freitag nach der Schule geredet, wenn man es so nennen will. Es kam mir vor wie eine Art bizarre Friedensverhandlung. So wie wir beide dastanden, ohne uns richtig anzusehen, und murmelten, dass es uns leid täte, während Darcia als Vermittlerin danebenstand und uns drängte, meinen Pyjamapartyplan zu besprechen. Aber zumindest sah Jess, wie glücklich wir Dar damit machten, und da ich den ganzen Tag darauf geachtet hatte, mich von Gabriel fern zu halten, konnte sie mir auch nichts vorwerfen.
Wenn man bedenkt, wie ich Gabriel am Donnerstag habe stehen lassen, ist es kein Wunder, dass er mir im Unterricht sowieso kaum Beachtung schenkte, geschweige denn in der Mittagspause nach mir suchte. Es versetzte mir dennoch einen Stich, ähnlich wie das Gefühl, eiskaltes Wasser in die Lunge zu bekommen.
»Hallo«, sage ich jetzt, als ich rangehe, und versuche so normal wie möglich zu klingen. Soweit Mom weiß,
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