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Deine Lippen, so kalt (German Edition)

Deine Lippen, so kalt (German Edition)

Titel: Deine Lippen, so kalt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amy Garvey
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mich durch das Loch in der Hecke. Ein einzelner Ast peitscht gegen meinen Oberschenkel und ich bleibe abrupt stehen. Die Seitentür der Garage steht weit offen, und während ich hinsehe, stößt der Wind sie knarrend noch weiter auf. Nein.
    »Danny«, flüstere ich, als ich nach drinnen renne. Die Treppe ist heruntergezogen, der Besenstiel, den ich die letzten Tage benutzt habe, um sie nach oben zu stoßen, liegt entzweigebrochen auf dem schmutzigen Zementboden.
    Ich weiß, er ist nicht da oben. Ich spüre es, eine heulende Leere, die mich zu verschlingen droht, aber ich poltere trotzdem die Stufen hoch.
    Der Speicher ist genauso leer, wie ich gedacht hatte, die Kerzenstümpfe stehen unangezündet auf dem Boden, die Decken auf der Matratze sind achtlos zu einem Haufen an der Wand getürmt. Dannys Buntstifte sind über den ganzen Boden verstreut, die Hälfte ist zerbrochen, dazwischen liegen bemalte Blätter Papier.
    Ich schlottere am ganzen Körper, als ich mich hinknie und eines davon aufhebe. Schon wieder der Baum, düster und zornig auf das billige Kopierpapier geschmiert. Es ist alles zu sehen auf den Bildern, die er zurückgelassen hat: der Baum, eine flackernde Kerze, die zerdrückte Motorhaube von Beckers Wagen, mein Gesicht, mein Mund, meine Hand. Und da, auf dem letzten Blatt, seine Mutter, sein Dad, sein Bruder, Molly mit ihren runden Augen und den gleichen wilden Locken wie Danny.
    Ich hole mühsam Luft, versuche es zu unterdrücken, aber es ist bereits zu spät. Ich krümme mich und übergebe mich auf die Bilder, ein übelriechender Schwall aus Abendessen und Magensäure. Der Schweiß bricht mir aus, er sammelt sich auf meiner Stirn und im Nacken, glitschig und kühl, während ich mir den Mund abwische.
    Er erinnert sich. Und er ist weg.
    Es ist so frostig, dass ich meinen Atem sehen kann, während ich die Straßen entlangirre. Der unter Schock stehende, blinkende Teil meines Gehirns fantasiert daraus einen Nebelpfad, der sich in seltsamen Kreisen durch die Nachbarschaft zieht wie das Gekritzel eines Kindes auf einem Stadtplan.
    Kurz nach eins klappern meine Zähne und ich befinde mich auf halbem Weg zwischen meiner Straße und Dannys. Die Häuser kauern am Straßenrand, bereit für die Nacht, wie schlafende Vögel auf einem Drahtseil, die Fensteraugen geschlossen. Ich kann nicht nach Danny rufen, und nach einer halben Stunde kann ich nicht mal mehr rennen – mir ist zu kalt und die Muskeln in meinen Beinen krampfen.
    Normalerweise dauert es nicht so lange, von mir zu Danny zu laufen, aber ich bin sorgfältig, laufe die Straßenzüge in Kreisen ab, halte Ausschau nach unruhigen Schatten. Er mag sich an den Unfall erinnert haben und an die Nacht auf dem Friedhof, aber es gibt keine Garantie dafür, dass er noch weiß, wie er nach Hause kommt oder wo genau zu Hause eigentlich ist.
    Ich weiß nicht, ob das gut oder schlecht ist, und es bricht mir so oder so das Herz.
    Ich bin dermaßen panisch, dass die Energie in ungebändigten Wellen in mir hochschwappt. Jedes Mal, wenn ein Ast knackt oder sich etwas bewegt, zucke ich zusammen, und zweimal schießt ein Strahl aus schwachem goldenem Licht in hohem Bogen von mir weg, ein plötzliches Aufleuchten in der Dunkelheit. Weit unten, am Ende der Dudley, wo sie zur Lawrence wird, explodiert die Birne einer Straßenlaterne, und ich muss losrennen, als bei dem Geräusch von klirrendem Glas in zwei Häusern das Licht angeht.
    Ich habe das Gefühl, schweben zu können, fliegen, so viel pure Energie summt in meinen Adern, kriecht unter meine Muskeln, bis sie vibrieren, während ich Straße für Straße ablaufe. Es wird jedoch zu viel, zu intensiv, und als ein Eichhörnchen mir auf der McKinley vor die Füße rennt – ein dahinjagender grauer Umriss zu dicht an meinen Füßen –, unterdrücke ich einen überraschten Schrei und beobachte entsetzt, wie das kleine Tier zu einer Wolke Pusteblumenschirmchen explodiert. Der Wind trägt sie mit einer Böe davon, die nackten grünen Stängel wirbeln hilflos hinterher.
    »Oh mein Gott.« Ich falle mitten auf dem Bürgersteig zitternd auf die Knie. Ich war das. Ich habe ein Eichhörnchen verschwinden lassen, verwandelt, zum Explodieren gebracht, was auch immer, und ich wollte es nicht mal. Ich war das.
    Ich habe inzwischen so viele Dinge getan, und wenn man das große Ganze betrachtet, ist es genau genommen nicht wirklich tragisch, ein Eichhörnchen in Unkraut verwandelt zu haben, aber das spielt keine Rolle. Es fühlt sich so

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